Waldemar Ritter: 31.8.2016

Waldemar Ritter 2002, Rede im Bundeskanzleramt Foto: Sabine Herrmann

Der Brexit als Chance für eine konstruktive Europäische Union

Der mühelose Umgang mit Großbritannien war schon immer eine heikle Herausforderung für die EU-Partner. Das hat wie in vielen europäischen Ländern seinen Ursprung in der Geschichte und der Kultur. Gerade deshalb ist sie ein Teil der Vielfalt von Europa. Auch wenn der überbordende Nationalismus verstörend wirkt, so müssen wir solche Tendenzen auch in anderen Ländern in unser Kalkül mit einbeziehen. Einige Wahlen in den europäischen Staaten werden 2017 die Integrität der EU erneut auf eine harte Probe stellen.

Das Brexit-Referendum ist keineswegs ausschließlich ein britisches Phänomen, vielmehr spiegelt es ein kafkaeskes Unbehagen der Menschen in ganz Europa wieder. In Hinblick auf eigene Verfehlungen, warne ich allerdings vor arroganten Tönen gegenüber Großbritannien oder anderen europäischen Ländern. Man kann in kurzer Zeit viel zerstören, was in 60 Jahren mühsam zusammen gewachsen ist. Ich erinnere an das schon fast vergessene nicht akzeptierte Referendum in Griechenland zu den EU-Auflagen. Rhetorisch abrüsten und hart verhandeln mit Britannien, das ist die neue Aufgabe der EU.

Ein konstruktiver Dialog mit den EU-Partnern ist vorrangig.

Damit aus dem Brexit keine Generaldiskussion wird und mit ihr ein Flächenbrand einhergeht, sollte Europa jetzt einen zielgerichteten Dialog mit allen Mitgliedstaaten führen, notfalls sogar einen Gang zurückschalten und dann langsam zwei Schritte voranschreiten. Genauso wie es die Deutschen auf dem steinigen Weg zur gesamtdeutschen Einheit zielorientiert in die Freiheit getan haben. Das Brüsseler Abendgebet hat sein Ende gefunden, allerdings kann die Echternacher Springprozession für die langfristigen Perspektiven der EU ein gutes Modell auf dem Weg für eine bessere Europäische Gemeinschaft sein.

Statt weiter zu zentralisieren und ein geeintes Europa mit einem vereinheitlichten Europa zu verwechseln geht es darum, die nationalen und regionalen Eigenständigkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten und ihrer Kultur stärker zu achten und im Miteinander wieder mehr Respekt vor der Geschichte, der Kultur und den Befindlichkeiten der anderen Mentalitäten zu bekommen.

Einheit in Vielfalt bedeutet, die Pluralität in Europa zu ertragen, sie zuzulassen und als wertvollen Schatz und Bereicherung, sowie als verpflichtendes kulturelles Erbe zu begreifen und anzuerkennen. Es bedeutet auch, „näher am Menschen“ zu sein. Das Projekt Europa bedarf immer wieder der Erneuerung und der demokratischen Legitimation seiner Bürger. Die EU darf nicht gegen die europäischen Nationen agieren und sich ungewollt allem überstülpen. Gerade der Umstand, dass es die Nationen überhaupt gibt, macht den Charme und die Einzigartigkeit von Europa aus.

Die Kultur Europas, die alle Europäer eint begann mit der antiken Philosophie, der Wissenschaft und der Kunst. Sie setzte sich fort im römischen Rechts- und Staatsgedanken und wurde geprägt durch das Christentum und die Aufklärung

Vor dem britischen Referendum habe ich geschrieben: Auf dieser Grundlage ist: „Das Wichtigste ist der Blick nach vorne, egal ob Großbritannien in der EU verbleibt oder sie verlässt.“ Bis jetzt leben in der EU über 500 Millionen Menschen, die 34 Sprachen sprechen und in 28 Ländern leben, davon befinden sich 19 in einem gemeinsamen Währungsraum. Der Binnenmarkt von Europa ist der größte der Welt. Alle 28 Mitgliedstaaten sind stabile Demokratien – ihre eigenen Problematiken mit einkalkuliert. Wir erleben die längste Epoche ohne einen Krieg in Mittel- und Westeuropa, die es je gegeben hat. Das alles ist eine der größten kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften der Moderne. Das sollten wir nicht aufs Spiel setzen.

Darüber hinaus muss die Europäische Union sich stetig reformieren und umgestalten. Ein besseres Europa beinhaltet: Mehr Freiheit, mehr Demokratie, mehr parlamentarische Kontrolle und mehr Gerechtigkeit. Ohne Bevormundung und Dominanz einzelner Staaten und eine zu starke Einmischung in die Belange und Befindlichkeiten der Staaten.

Der Brexit – Ein Ereignis mit historischer Tragweite

In Europa muss sich vieles verändern. Wir sollten den Brexit als eindringliche Mahnung begreifen: Brüssel muss seine Regulierungen wieder stärker dezentralisieren um wieder handlungsfähig zu werden. Diese Handlungsfähigkeit braucht die EU jetzt dringend, um die enormen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft bewältigen zu können.
Weiterhin brauchen wie klare Konzepte für ein friedliches kulturelles Miteinander, Antworten auf die Fragen der Migration und Konzepte für die innere und äußere Sicherheit von Europa als Ganzes.

Besonders die EU kritischen Menschen und Länder sollten Verständnis dafür entwickeln, dass wir ein geeintes Europa brauchen, um uns gegenüber den anderen Weltmächten behaupten zu können. Eigentlich wäre es die Aufgabe der EU, die unterschiedlichen Interessen der Nationalstaaten auszugleichen und mit ihnen auf Augenhöhe gleichberechtigt zu verhandeln. Wiedererwarten gebärdet sich der Europäische Rat wie eine Art ständiger Wiener Kongress, in dem parlamentarisch unkontrolliert, die Starken den Ton angeben. Dieser Umstand trägt ein stückweit zum Misstrauen gegen die EU bei.

Europas Vorankommen sollte in Zeiten von Rechtspopulisten und Krisen denen anvertraut werden, die Europa lieben. Es geht darum, die rechtspopulistischen Hochstapler frühzeitig zu entlarven, bevor sie so viel Schaden anrichten können wie in Großbritannien. Seit der Brexit-Entscheidung der Briten haben die Zustimmungswerte zur EU und der europäischen Idee spürbar angezogen. Selbst in neo-kritischen Ländern wächst die Zustimmung für Europa. Der Brexit ist so gesehen eine Art Neuinterpretation des klassischen Start-Up-Diktums vom Scheitern als Chance. Das britische Scheitern sollte in diesem Fall als große Chance für ganz Europa betrachtet werden, denn die Gegner Europas haben weder Alternativen, Visionen noch überzeugenden Argumente anzubieten.

EU muss offensiver werden

Wir sollten in aller Ruhe eine Debatte führen in welchem Europa wir zukünftig leben möchten und welche Fehlentwicklungen es zu verhindern gilt. Die Bürger möchten ernst genommen werden. Bei der Betrachtung, des bonapartischen Frankreich hat Karl Marx den Begriff der  Verselbständigung der Exekutivgewalt geprägt. Dieser Begriff trifft momentan auf Brüssel zu. Ganz besonders auf Angela Merkel. Mit der invasionären Masseneinwanderung hat die Bundeskanzlerin den Brexit-Populisten hinreichend Vorschub geleistet und die Folgen mit zu verantworten. (Vor dem Brexit der Briten war die unkontrollierte Einwanderung zu einem Hauptthema der Volksabstimmung geworden.)

Ich würde gerne von der Bundeskanzlerin erfahren, was sie sich dabei gedacht hat, als sie die Grenzen auf Dauer, unkontrolliert und unbegrenzt geöffnet hat. Denn da lässt mich meine Vorstellungskraft im Stich. Das, sowie mangelndes Fingerspitzengefühl gegenüber unseren europäischen Nachbarn, hat nach 60 Jahren zu einer Isolierung Deutschlands in der europäischen Union geführt. Selbst der Rheingraben ist gefühlt tiefer geworden. Wir brauchen, wie alle Europäer, eine Obergrenze  für Flüchtlinge und die Klärung der Grenzbelastung bei der Integration.

Wir brauchen eine wirksame Kontrolle, wir  müssen endlich wissen, wer sich überhaupt in Deutschland und in Europa aufhält. Nicht alle sind mit guten Absichten hier. Die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung haben die Kontrolle des Staates über die Einwanderung monatelang aufgegeben und ein ganzes Land für ein Experiment vereinnahmt, dessen Folgen die Gesellschaft nach allem was bekannt ist, eher zum Negativen wird. AFD und Brexit sind Beispiele dafür.

Für die Entscheidung der Briten ist auch die Amtsführung des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker mit verantwortlich. Er regiert nach dem Pippi Langstrumpf-Prinzip: „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt“, und verwechselt die EU mit der Villa Kunterbunt. Eine Europapolitik, die weder die Bürger noch die europäischen Staaten lustig finden.

Gehen wir in die Offensive und hören auf damit, immer nur zu reagieren. Es wird Zeit, aus der Lethargie der Passivität zu erwachen und zwar als Mitspieler und nicht als politischer Boxsack. In Europa müssen die Europäer die Themen der Gegenwart und der Zukunft nachhaltig selbst bestimmen. Es gibt kein Land in der EU in dem die Mehrheit der Bevölkerung für eine Aufnahme der Türkei in die EU ist.

Nichts belastet das Verhältnis zu den Menschen und den Ländern Europas stärker als  die nicht demokratische Migrations- und Flüchtlingspoltik der Bundeskanzlerin. Das gilt insbesondere für Mittel/Osteuropa.

Zwar ist der dortige Hinweis auf die sowjetische Breschnew-Doktrin maßlos überzogen. Doch zeigt sich, wie ausgeprägt das Gefühl  im europäischen Osten ist auch in der EU  politischer Fremdbestimmung ausgesetzt  zu sein. Nichts verstärkte diese Empfindung wie die Flüchtlingspolitik Merkels und ihr Konzept die Migranten auch auf andere Länder zu verteilen, die das partout nicht wollen, auch in Erinnerung an die “Zwangsumsiedlung” durch  Nazideutschland und Stalin. Oder wie der französische Ministerpräsident Manuel Valls  gesagt hat: “Wir haben niemanden eingeladen” Merkels Migrations- und Flüchtlingspolitik hat Deutschland und Europa geschadet. Es ist das Jahr, in dem Merkel die Deutschen und die Europäer verlor.

Diese Politik hat auch keine Obergrenze für Integration, wie sie der CSU Vorsitzende Seehofer und der SPD Vorsitzende Gabriel fordern. Man kann Menschen nicht einwandern lassen, wenn die Voraussetzungen nicht geschaffen sind, wenn die Gesellschaft sie nicht mehr integrieren kann. Wenn die Belastungsgrenze dafür überschritten ist.

Die EU muss der Glaubwürdigkeitskrise mit konkretem Handeln und nachvollziehbaren Ergebnissen begegnen und der Binnenmarkt muss endlich sein volles Wachstumspotenzial entfalten. Die Flüchtlingskrise sowie eine vernünftige Grenzsicherung Europas kann keiner der EU Staaten alleine bewältigen. Die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa ist nicht weiter hinnehmbar. In Deutschland bleiben die Lehrstellen unbesetzt, während junge Griechen und Spanier keine Arbeit finden. Die EU verfügt über das Erasmus-Studenten-Austauschprogramm, warum schaffen wir keinen europäischen Ausbildungsverbund?

Das Verbindende in den Mittelpunkt stellen

Was wir neben den Reformen brauchen sind jetzt erste Zukunftsprogramme der Europäischen Gemeinschaft. Vor allem die technische Innovation und der Ausbau des digitalen Binnenmarktes. Noch im Jahr 2000 wollten wir der dynamischste Kontinent der Welt sein. Das ist Europa gerade im Bereich der Digitalisierung heute nicht. Wir sollten aber auch den Junker-Fonds verlängern und das Erasmusprogramm erweitern. Mehr Geld in Programme  zur Bekämpfung von Fluchtursachen stecken, ein Ein- und Ausreiseregister für den gesamten Schengenraum einrichten und mit einen starken Schutz die Grenzen sichern. Europa braucht auch mehr Koordination gegen den islamistischen Terrorismus. Europa sollte die eigene Verteidigung stärker in die Hand nehmen.

Es ist höchste Zeit für eine Europäische Armee, zumal das amerikanische Engagement in der Nato nachlassen wird, unabhängig vom Ausgang der Präsidentenwahl. Der Ausstieg Großbrtitanniens  sollte deutlich machen, dass die anderen 27 Staaten auf ein prosperierendes und auf ein sicheres Europa setzen,
Es ist zu hoffen, das jetzt beim EU Gipfel in Bratislava, der kein Entscheidungsgipfel werden wird, mindestens ein Arbeitsrahmen vereinbart wird, der in Folge konkrete Beschlüsse ermöglicht, bis zum ersten symbolisch und zeitgeschichtlich herausragenden Zielpunkt, dem 60. Jahrestag der Römischen Verträge, der im März in Rom begangen wird.

Vorher sollte Deutschland sein Hauptproblem lösen Deutschland darf Probleme und Konflikte mit  deren innen -und außenpolitischen Folgen nicht importieren. An die verheerenden Spätfolgen möchte ich gar nicht denken. Wen wir willkommen heissen und wen nicht bestimmen wir und nicht die Schlepperbanden und Menschenhändler, denen wir auch international das Handwerk legen müssen Was bisher in der Migrations- und Flüchtlingspoltik im Grundsatz falsch gemacht worden ist muß  mit einer Kultur der Vernunft gelöst werden. Statt “Wir schaffen das” sollte stehen “Wir haben verstanden” und “Wir ändern das”

Bei aller berechtigten und notwendigen Kritik an der EU kann nur die europäische Einigung die richtige Antwort auf das Zeitalter der  Globalisierung sein. Die europäischen Länder und auch Deutschland sind zu klein, um die internationalen Herausforderungen alleine gestalten zu können. Trotz Brexit träume ich davon, dass wir eines Tages eine europäische Verfassung erreichen werden aber jetzt ist nicht die Zeit dafür.  Bedenken wir, dass das schöne altgriechische Wort „Euruopa – weithin blickend“ bedeutet, wenn man es frei übersetzt. In diesem Bestreben sollten alle Europäer miteinander verbunden sein.

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