Ausstellung „1929/1955“ im Museum „Zentrum für verfolgte Künste“ Solingen

Anton Kerschbaumer, „Stillleben mit Weihnachtsengel“ um 1930, Öl auf Leinwand, 98,5 x 68 cm © Bürgerstiftung für verfolgte Künste – Else-Lasker-Schüler – Kunstsammlung Gerhard Schneider

Felix Nussbaums „Rue triste“. Ein unbekanntes Bild zur Pogromnacht des 9. November 1938 entdeckt

Solingen/Kassel. Das Museum „Zentrum für verfolgte Künste“, Solingen, und das Documenta Archiv, Kassel, beleuchten in einem gemeinsamen Ausstellungsprojekt die Umstände, unter denen Kunst zum Klassiker wird oder in Vergessenheit gerät. Im Fokus steht ein Vergleich der „Großen Kunstausstellung Kassel“ im Jahr 1929 mit der ersten Documenta 1955. Die Ausstellung „1929/1955“ wird bis zum 11. September in Solingen gezeigt und wandert im Anschluss daran weiter nach Krakau (Polen), wo sie im Museum für Gegenwartskunst (MOCAK) zu sehen sein wird.

Kuratorische Auswahlprozesse

Mit der 15. Ausgabe der Documenta steht Kassel im Sommer wieder im internationalen Rampenlicht. Bis heute gilt sie als eine der bedeutendsten wiederkehrenden Kunstausstellungen weltweit. Sie verschafft Künstlerinnen und Künstlern Aufmerksamkeit und prägt ihre Karrieren. Wer an einer Documenta teilnimmt, hat gute Chancen darauf, auch in Zukunft wahrgenommen, diskutiert und vermarktet zu werden. Diese Deutungsmacht wirft Fragen nach den kuratorischen Auswahlprozessen auf: Welche Personen, Institutionen und Umstände bestimmen darüber, wer nach Kassel eingeladen wird und wer nicht?

Emil Betzler, „Frauenbad“, 1924, Tuschezeichnung, 46,6 x 31,6 cm © Bürgerstiftung für verfolgte Künste – Else-Lasker-Schüler – Kunstsammlung Gerhard Schneider

Verweis auf Anfänge 1955

Das „Zentrum für verfolgte Künste“ und das Documenta Archiv, Kassel, nähern sich dieser Frage im Rahmen eines Forschungsprojekts. Es verweist auf die Anfänge der Documenta im Jahr 1955. Durch einen Vergleich mit der 1929 ebenfalls in Kassel unter völlig anderen Vorzeichen und mit abweichenden Zielstellungen veranstalteten „Vierten Großen Kunstausstellung“ wird die Reflexion über die Rolle der Documenta für die Kanonisierung von Kunst in der Nachkriegszeit in Gang gesetzt. Die Solinger Ausstellung schöpft aus

aus eigenen Sammlungsbeständen, die um einzelne Leihgaben ergänzt wurden. Anhand von annähernd 80 Werken unternimmt sie eine teilweise Rekonstruktion der „Vierten Großen Kunstausstellung“ 1929. Rund 30 Künstlerinnen und Künstler der Solinger Sammlung waren damals in Kassel vertreten – auf der ersten Documenta 1955 hingegen nur noch drei. Und das, obwohl beide Ausstellungen maßgeblich von Arnold Bode (1900-1977), dem Gründungsvater der Documenta, gestaltet wurden. Wie also lassen sich die oft komplexen Prozesse der „Werk- und Künstlerinnen und Künstlerauswahl“ rekonstruieren, die zu derartigen Verschiebungen führten? Welche Bedeutung hatten die Jahre des Nationalsozialismus 1933-1945 für die Veränderung der Auswahlkriterien, in welcher Weise prägte die Feme-Ausstellung „Entartete Kunst“ seit 1937 den Avantgarde-Begriff von Kunstwissenschaftlerinnen und Kunstwissenschaftlern, Kunstkritikerinnen und Kunstkritikern, Kuratorinnen und Kuratoren nach 1945?

Felix Nussbaum, „The Great Disaster (Die große Zerstörung)“, um 1939, lavierte Tusche auf Papier, 54,5 x 67 cm. © Yad Vashem, Jerusalem

Kunsttechnologische Untersuchung 

Unter den gezeigten Bildern befindet sich u.a. das Werk „Rue Triste“ (Trostlose Straße)“ von Felix Nussbaum von 1928. Damit reagiert der Künstler auf die Pogromnacht vom 9. November 1938. Die „Rue triste“ ähnelt städtebaulich der Osnabrücker Johannisstraße, der Straße, in der Felix Nussbaum seine Kindheit und Jugend verbrachte. Unweit der großen gotischen Johanniskirche befand sich in der Schlossstraße das Elternhaus und in unmittelbarer Nachbarschaft, in der Seminarstraße, lag der Hauptsitz der väterlichen Firma. Er übermalt ein Weltuntergangsszenario zur Pogromnacht mit einem schnellen Pinselstrich im Dezember 1938 für seine Brüsseler Ausstellung im Februar 1939. Das aus dem Bestand des Museums bestehende Werk wurde jüngst am Institut für Restaurierungs- und Konservierungswissenschaft (CICS) der Technischen Hochschule Köln kunsttechnologisch untersucht. Anlass für diese Untersuchung geben lang gehegte Vermutungen zum Entstehungszusammenhang und zur Datierung des Werkes. Mittels Röntgen- und Infrarotstrahlen wurde diese Vermutung bestätigt und weitere Erkenntnisse über die Werkgenese gewonnen, die eine Umdatierung des Gemäldes fordern, das Mitte 1942 vom im Exil lebenden Felix Nussbaum in einem Depot in der Brüsseler Avenue Brugman  versteckt wurde.

Felix Nussbaum, „Rue triste (Trostlose Straße)“, um 1938/39, Öl auf Leinwand, 56 x 43 cm, © Zentrum für verfolgte Künste, Solingen

Entdeckungsmuseum

Das „Zentrum für verfolgte Künste“, Solingen, in dem nun auch dieses Werk gezeigt wird, ist ein Entdeckungsmuseum und widmet sich ausschließlich Künstlerinnen und Künstlern, deren Entfaltungsmöglichkeiten und Werke durch die Diktaturen des letzten Jahrhunderts und totalitäre Regime bis in die Gegenwart hinein blockiert, verhindert oder vernichtet wurden. Es ist ein gattungsübergreifendes Museum und erzählt in seiner Kunst- und Literatursammlung von verschollenen, verlorenen, kaum berücksichtigten Kunstwerken, Geschichten und Schicksalen.

Dokumenta Archiv Kassel

Das Documenta Archiv, Kassel, wurde 1961 von Arnold Bode gegründet und widmet sich der Archivierung,  Dokumentation und wissenschaftlichen Bearbeitung von Text- und Bildquellen zur modernen und zeitgenössischen Kunst. Einer der Schwerpunkte liegt auf den seit 1955 stattfindenden Documenta-Ausstellungen, den kuratorischen Praktiken und dokumentarischen Strategien von Gegenwartskunst. Trägerin ist die documenta und Museum Fridericianum gGmbH. Das Documenta Archiv ist Mitglied im Arbeitskreis selbstständiger Kultur-Institute e.V. (AsKI) und initiiert wissenschaftliche Projekte entlang eigener Bestände, dies in Kooperation mit nationalen und internationalen Forschungs- und Kultureinrichtungen. Innerhalb der Documenta gGmbH verfolgt das Archiv darüber hinaus- auch in Zusammenarbeit mit den kuratorischen und technischen Abteilungen, eine künstlerisch-archivarische Ausstellungs- und Vermittlungsagenda. pk