Was erwartet die Politik?

Ein Beitrag von Dr. Waldemar Ritter:

VOR ÜBER 60 Jahren sagten Sie in der Godesberger Stadthalle: Macht haben nicht um der Macht willen, sondern um die Zukunft zu gestalten.

Dr. Ritter: Die Zukunft wird nicht dadurch besser, dass man auf sie wartet oder sie sich besser wünscht, sondern sie realistisch gestaltet. Sie wird besser, wenn wir gemeinsam anpacken. Das ist die schönste Perspektive für verantwortungsvolle Politiker, die Lebensbedingungen der Menschen verbessern möchten, indem sie in Staat und Gesellschaft wirken, deren Zukunft Bestand hat. Dafür ist Macht erforderlich.

KABINETT: Wie soll das funktionieren?

Dr. Ritter: Mit dem Wahrnehmen und Erkennen von aktuellen Realitäten und dessen, was man mit klaren Ideen, Innovationen, Erfahrung und Kompetenz in die Tat umsetzen kann. Dies wären die richtigen Antworten auf die wesentlichen Fragen und Herausforderungen unserer Zeit. Themen, die angepackt werden sollten: Wie kann die Zukunft gestaltet werden? Wie sieht eine klimaneutrale Wirtschaft aus, die unsere Umwelt schützt und gute Arbeit schafft? Dies impliziert die Frage: Wie gelingt es uns, für alle jungen Menschen gleiche Chancen herzustellen, unabhängig von Wohnort und Elternhaus.

KABINETT: Sind das alle wesentlichen Fragen unserer Zeit?

Dr. Ritter: Natürlich nicht. Es geht um Bedingungen, Inhalte und Ziele. Es geht um Prüfung und Überprüfung politischer Handlungen und Unterlassungen. Die Pandemie und ihre Folgen werden das kollektive Gedächtnis für sehr lange Zeit prägen. Die Überbevölkerung unserer Erde – zu meiner Geburt lag die Bevölkerungszahl bei rund zwei Milliarden Menschen, heute sind es 7,8 Milliarden, zur Jahrhundertwende werden es etwas elf Milliarden sein. Hinzu kommt der ansteigende Verbrauch begrenzter Ressourcen, die Hauptursache für die anwachsenden Probleme der Gegenwart. Damit alle eine tragfähige Zukunft haben, müssen wir mit den Ressourcen, die uns unser Planet bietet, sorgfältig Haushalten, bei der Anzahl von Lebewesen, die er beherbergt.

KABINETT: Niemand weiß heute, wie sich die Bedrohung durch Corona-Mutanten weltweit entwickelt.

Dr. Ritter: Ich bin auch nur einer von 82 Millionen Virologen in Deutschland. Für den von mir sehr geschätzten Historiker Münkler wäre es im schlimmsten Fall möglich, dass bald eine weitere Pandemie folgt. Denn es könnte sein, dass Corona keine Jahrhundert-Pandemie war, sondern ein Jahrhundert der Pandemien einleitet. Aber eine Hinterlassenschaft wird weiterhin von Corona bleiben. Durch das Virus ist ein hohes Maß an Ungewissheit und Unplanbarkeit in unserem Leben eingetreten. Allein dadurch wird die Rolle des Staates wieder besser, effizienter und stärker werden müssen. Das Virus ist weder vernichtet noch wird es die letzte Seuche sein. Das Virus wird bleiben. Darauf muss sich die Menschheit einstellen und darauf das es weiter mutieren wird. Allein die Bewältigung der Folgen der Corona Pandemie ist eine beachtliche Herausforderung für die ganze Welt. National gesehen ist Impfen derzeit ein patriotischer Akt. Deutschland muss endlich krisenfester werden.

KABINETT: Sie haben das „Klimapaket“ der Bundesregierung 2019 als „Päckchen“ bezeichnet.

Dr. Ritter: Der notwendige große Wurf hätte anders aussehen müssen. Dieses Klimaschutzgesetz war in Teilen verfassungswidrig. Es fehlten ausreichende Vorgaben für die Emissionsminderung ab 2031. Es bedurfte eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts, dass am 24. Juni das Gesetz entscheidend und generationsgerecht novelliert wurde. Nach der wegweisenden Erklärung der Richter darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2 Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt wäre.

KABINETT: Halten Sie es für richtig, dass die jetzige Bundesregierung und der jetzige Bundestag noch vor der Wahl ein neues Klimaschutzgesetz verabschiedet hat?

Dr. Ritter: Ja unbedingt! Das war notwendig. Mit dem neuen Klimaschutz begegnet die Regierung den besonderen Herausforderungen, die mit dem Klimawandel verbunden sind. Es geht allerdings nicht nur um die Generationengerechtigkeit. Der Klimaschutz darf keine Frage eines dicken Geldbeutels sein und auf gar keinen Fall auf den Schultern der Geringverdiener ausgetragen werden.
Deutschland muss wieder spürbar in Wissenschaft und Forschung investieren. Wir sollten das Zentrum für die Entwicklung von klimafreundlichen Technologien sein. Wir brauchen wirtschaftliche und soziale Vernunft sowie klimapolitischen Realismus. Was gerade von der EU zum Klimaschutz für ganz Europa konkret auf den Weg gebracht wird, ist grundsätzlich zu begrüßen.
Die billigste Ausrede für unterlassene Warnungen nach dem verheerenden Hochwasser: Der Klimawandel ist an allem schuld.

KABINETT: Der Weltklimarat warnt, dass das 1,5 – 1,8 Grad-Ziel womöglich nicht erreichbar ist?

Dr. Ritter: Ja, der Weltklimarat der Vereinten Nationen hat eindringlich vor einem bevorstehenden Kontrollverlust bei der Erderwärmung gewarnt. Wenn wir jetzt nicht schnell und im großen Stil Treibhausemissionen verringern, könnte das 1,5 Grad-Ziel bereits 2030 überschritten worden sein. Das bedeutet Alarmstufe rot.

KABINETT: Und das internationale Verhältnis?

Dr. Ritter: Der Klimaschutz ist kein nationales, sondern ein globales Problem. Deutschland und Europa sind in den Klimazielen schon jetzt vorbildlich. Europa wird als erster Kontinent die Klimaziele erreichen. Es wird ein Jahrhundertwerk. Bis 2030 sollen die Treibhausemmissionen aus der EU um 55 Prozent abgesenkt werden. Dafür müssen die Klimaregularien konkret umgebaut werden. Eine nachhaltige Kraftanstrengung, wie sie Europa noch nie gesehen hat. Das wird schwierig und sehr teuer werden. Europa einschließlich Deutschland stoßen nur neun Prozent der weltweiten Emissionen aus. Allein China, USA und Indien verursachen mehr als die Hälfte der Weltbelastungen. Soweit ich sehe, werden sie versuchen, dem nachzukommen. Beim Klimaschutz geht es darum, dass die Regierungen das Pariser Klimaschutzabkommen einhalten. Das Pariser Klimaschutzabkommen kann nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn alle mitmachen. Das bedeutet, dass die 1,5 -1,8 Grenze bei aller Komplexität nicht zur Debatte steht.
Wer jetzt nicht handelt, wird es später vielleicht nicht mehr können. Kosten und Risiken sind erheblich, dafür stehen die Chancen sehr gut.

Es ist fünf vor zwölf. In Asien müssen die Emissionen endlich nachhaltig gesenkt werden. China hat in den letzten 30 Jahren seine Klimaverschmutzung vervierfacht. Deutschland hat sie um 30 Prozent reduziert. China hat die gleiche Wirtschaftskraft wie die EU, allerdings produzieren sie dreimal so viel Emissionen. China erlaubt sich eine massive Klimaschädigung, um einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen. Das bedeutet, die Klimaziele sind unerreichbar, solange einzelne Staaten, wie China oder Nigeria durch ihren weiterwachsenden Ausstoß den Erfolg zunichtemachen. Oder wenn Staaten mehr neue Kohlekraftwerke bauen, als Deutschland schließt. Die globalen Klimaziele sind nicht zu retten, wenn China und Indien ihre Emissionen schneller steigen, als westliche Industriestaaten sie einsparen. Zielführend wäre, wenn sich Amerika mit dem europäischen „Klimaclub“ verbindet, dem dann China auch nachkommen müsste.
Wann protestieren Greta und ihre „Fridays for Future-Bewegung“ vor der richtigen Haustür, vor der chinesischen Botschaft?

KABINETT: Wenn Sie mit der neuen Klimapolitik Deutschlands und den Zielen der EU-Kommission jetzt grundsätzlich einverstanden sind, was kritisieren Sie auf anderen Gebieten in Deutschland und Europa?

Dr. Ritter: Ein weitumspanntes Gebiet in Politik und Wirtschaft und Gesellschaft. Der Bund und die Länder haben viel über die Digitalisierung gesprochen, aber im Vergleich zu anderen Ländern wenig unternommen. Vieles ist liegen geblieben und weder beschlossen noch umgesetzt. Es geht um politische Versprechen und Taten. Jahrelang haben wir die Digitalisierung verschlafen. Offensichtlich wird immer noch nicht realisiert, welche Umwälzungen auf Grund der Digitalisierung in der globalen Weltordnung auf uns zukommen. Die Veränderungen sind grundlegender als jemals zuvor in der Geschichte.

KABINETT: Wie ist die zukünftige Rolle Deutschlands in der Weltpolitik und -wirtschaft zu sehen?

Dr. Ritter: Kein europäischer Staat kann auf sich gestellt in der Liga der USA und China mitspielen. Nur zusammen werden wir mit ihnen auf Augenhöhe sein. Alleine die Europäische Union in ihrer Gesamtheit hat eine reale Chance – somit auch wir Deutsche – als gleichberechtigte Player in der weltweiten Wirtschaft und Politik im Spiel zu bleiben. Eines unserer großen Ziele ist ein global vernetztes Europa. Es ist höchste Zeit, Chinas Projekt der „Seidenstraße – Belt and Road“ eine eigene Konnexionsstrategie entgegenzusetzen: mit schnellen Schritten – nachhaltig, umfassend und regelbasiert.
Über die bisherige „Antiseidenstraße“ kann Peking nur schmunzeln.
Europa fehlt der Mut zu mehr Einheit auch auf den für die EU wichtigen Gebieten. Nämlich dort, wo die EU ihre Kernkompetenz hat. Wir müssen vor allem die Möglichkeit schaffen, die Außenpolitik der EU durch Mehrheitsentscheidungen zu stärken, anstatt die Vielfalt der Kultur in den Mitgliedsländern zu tangieren.

KABINETT: Wo sehen Sie Gefahren in unserer Gesellschaft?

Dr. Ritter: Zum Beispiel in der Wahrnehmungsfalle der Gesellschaft. Sie ist soweit polarisiert, dass die einen vor den 33.000 Rechtsextremisten warnen, die anderen vor den 34.000 Linksextremisten und die dritten vor 29.000 Islamisten. Es ist die unscharfe bis völlig fehlende Grenzziehung zu den Extremisten auf der rechten, linken und im religiösen Feld, die sich immer mehr als die Gefährdung der freiheitlichen sozialen Demokratie darstellt. Das eine Problem darf das andere nicht relativieren.
Seit kurzem wird die Singularität des Holocaust auch von Linken infrage gestellt. Sie verdränge koloniale Genozide und sei eine deutsche Zivilreligion. Die Argumente dieser Kritik sind abenteuerlich und voller historischer Lücken. Neu ist, dass der Antisemitismus im menschenrechtlichen Jargon verpackt wird.

KABINETT: In Deutschland gibt es bei nicht wenigen auch zunehmend Gender-Probleme mit der Sprache zwischen Recht und Gerechtigkeit.

Dr. Ritter: Wir gendern seit Jahrtausenden und das ist gut so. Jeder kann so gendern, wie er will. Aber manchmal wundere ich mich nur noch. Beispielsweise bei einem Leserbriefschreiber im Bonner Generalanzeiger wundere ich mich über Frauen und Feministinnen. Wo bleibt der Aufschrei? Müssten sie nicht lauthals protestieren? Merken sie nicht, dass sie bei den meisten Formen nur Anhängsel sind an die Männer? „Lehrer*innen“, Journalist*innen, und so weiter? Die einzig angemessene und würdigende ist die volle Nennung „Lehrer und Lehrerinnen“ oder „Bäcker und Bäckerinnen“.
Soviel Zeit sollten uns alle Frauen und Männer wert sein, dass wir sie voll und eigens respektieren. Wer das Gendersternchen bei Lehrer*innen mit dem Knacklaut aussprechen möchte, wird auf eine Mehrheit treffen, die so einen gravierenden Verstoß gegen Lautgesetze und Gepflogenheiten des Deutschen als anstößig, unbequem und gestelzt vermeidet, um sich nicht die Zunge zu verknoten. Vergessen wir nicht. Die deutsche Sprache ist das höchste Kulturgut der größten Sprachgemeinschaft in der Europäischen Union.
Es bleibt dabei: „Die Sonne, die Erde und der Mond in unserer Muttersprache. Und der Planet, nicht die Planetin.“ Ganz schlimm wird es, wenn sich sogar bis zu den Parteien von der AFD diktieren lassen, worüber sie reden und worüber nicht. 2 + 2 = 4, das Wort normal bleibt normal auch wenn es die AFD für ihren Wahlkampf missbraucht.

KABINETT: Geben Sie uns einen Kommentar zu Afghanistan?

Dr. Ritter: Verzweiflung der Menschen am Flughafen von Kabul zerreißt einem sein Herz. Bilder, die ich heute sehe, sind schmerzhaft und erschütternd. Meine Kritik geht über die falsche Einschätzung der Lage hinaus. Es ist schlicht ein Desaster, die Entwicklung in Afghanistan eine Tragödie. Wertegeleitete Außenpolitik ist in Afghanistan und im Irak krachend gescheitert. Nicht nur deutsche Politik kommt in den letzten Jahren immer wieder zu spät. Vor genau zehn Jahren hätte es heißen können „Mission accomplished“. Eine ehrliche und nüchterne Debatte über den Einsatz am Hindukusch gab es in Deutschland nicht. Aus dem Kabuler Debakel müssen grundsätzliche Lehren gezogen werden. Gerade die deutsche Außenpolitik darf nicht mehr in simpler Gesinnungsethik verharren.

KABINETT: Am 26. September sind Bundestagswahlen. Haben Sie sich die Programme angesehen?

Dr. Ritter: Von Kurt Tucholsky gibt es eine Wahlkampfsatire aus der Weimarer Republik: „Bitte sehr“, sacht det Frolein, wat da stand, da nehm Sie, unsa Programm Numma siemundfürressich – da is det allens drin. Wenn es Sie nicht jefällt ́, sacht se, denn kenn Siet ja umtauschen‘‘.

Die Wahlprogramme der Parteien werden nur von wenigen gelesen. Sie dienen vor allem der eigenen Klientel. Im Grunde genommen wollen sie damit lieber das verbal Erreichte verwalten, anstatt die Zukunft wirkungsvoll und aktiv zu gestalten. Die Parteien sollten neben dem Klimaschutz vor allem die Wirtschaft und die Zukunftsfragen, die für eine moderne und erfolgreiche Industriegesellschaft entscheidend sind, ganz nach vorne stellen und in den Focus rücken. Dabei sollte es weniger um Verbote und mehr um das ermöglichen gehen.

KABINETT: Welche Parteien wollen was verbieten?

Dr. Ritter: Der Bonner Generalanzeiger hat die Verbotsideen der im Bundestag vertretenen Parteien umfassend dargestellt. Platz 1 Die Linke, 2 Die Grünen, 3 Die AFD, 4 CDU/CSU, die SPD, 6 die FDP.

KABINETT: Welche Koalition wird es nach der Wahl geben?

Dr. Ritter: Es gibt Wahrscheinlichkeiten. Die hängen jedoch vom Wahlergebnis ab. Egal wer nach den Wahlen regiert, die neue Regierung braucht sehr viel Mut. Das Ziel einer Klimaneutralität erfordert eine beachtliche Transformation der Gesellschaft, sagt der Bundespräsident. Betroffen sind alle gesellschaftlichen Sektoren: Wohnen, Bauen, Mobilität, Schulen und Landwirtschaft. Die Dynamik der Veränderung wird dabei enorm sein. Besonders bei der Klimagerechtigkeit dürfen wir nicht länger warten. Die Politik muss jetzt die Entscheidungen treffen, die dazu notwendig sind.

Hier können Sie den Beitrag im aktuellen Journal nochmal nachlesen:
https://www.kabinett-online.de/ausgabe/2021-01/