Plädoyer für ein neues Wahlrecht zum Deutschen Bundestag Bonn 22.10.2013

Dr. Waldemar Ritter

Waldemar Ritter, Bonn 23. Oktober 2013

Die unmittelbare, freie, direkte, geheime und gleiche Wahl ist mit den Menschenrechten und der Gewaltenteilung das Fundament der Grundrechtsdemokratie und der Volkssouveränität. Die Gleichheit vor dem Gesetz, die Wahlrechtsgleichheit gehört zu den politischen Grundrechten jedes Staatsbürgers.

Die Frage ist, ob das zurzeit geltende Bundeswahlrecht dem noch gerecht wird.

Bei der Bundestagswahl im September 2013 haben 6,86 Millionen Menschen Stimmen abgegeben, die nicht zählen. 15,7 Prozent unserer Bevölkerung, das sind dreimal so viel wie die Fünf-Prozent-Sperrklausel, haben keinen Abgeordneten im Parlament, sie sind im Deutschen Bundestag nicht vertreten. Das ist etwas anderes als die über 17 Millionen Menschen, die nicht zur Wahl gegangen sind, die niemanden gewählt haben. Aus Überzeugung oder sozialer Resignation oder „ist-mir-egal“. Zusammengezählt hat aber die Diskrepanz zwischen Legalität und Legitimität einen Punkt erreicht, der unter demokratischen Aspekten für die Zukunft nicht mehr hingenommen werden kann.

Der Anteil der Nichtwähler – das sind mehr als die zweitstärkste Partei im Bundestag Stimmen hat – und der Wählerstimmen, die unter den Tisch gekehrt werden, also für die Zusammensetzung des Parlaments nicht berücksichtigt werden, ist bei dieser Wahl erstmals höher als beim jetzigen Wahlrecht für die absolute Mehrheit im Bundestag nötig sind. Das ist das erschreckend Neue, das es bisher bei keiner Bundestagswahl gegeben hat.

Bleiben wir bei den fast sieben Millionen Wählern, die im Parlament nicht repräsentiert sind, obwohl sie gültig gewählt haben, also die, deren Parteien nicht über die Fünf-Prozent-Hürde kamen, (die in der Nachkriegszeit durch unsere Geschichte begründet war). Heute ist sie, wie die Sitzverteilung des neu gewählten Bundestages zeigt, demokratisch nicht mehr vertretbar. Die Wähler, die wegen der Sperrklausel keine Abgeordneten bekamen, hatten vor vier Jahren nur sechs Prozent der Stimmen, heute sind es fast dreimal so viel. Diese Wähler haben fast so viele Stimmen wie Grüne und Linkspartei zusammen. Das entspricht mehr als 100 Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Sie werden doppelt bestraft; weil ihre Partei den Einzug in den Bundestag verfehlt hat, vergrößert sich die Zahl der Abgeordneten und damit die Macht der konkurrierenden, die Macht  der etablierten Parteien, die sie nicht gewählt haben.

Das Bundesverfassungsgericht hat erst vor einem Jahr die Fünf-Prozent-Hürde bei Europawahlen wegen der „Ungleichgewichtung der Wählerstimmen“ für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Sie verstößt gegen die Grundsätze der Wahlrechts- und Chancengleichheit der Parteien. Die allgemeine und abstrakte Behauptung, durch den Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel werde die Willensbildung im Parlament erschwert, könne den Eingriff in diese Grundsätze nicht rechtfertigen. Nach Auffassung der Richter wird die Funktionsfähigkeit des EU-Parlaments durch den nun möglichen Einzug von kleinen Parteien aus Deutschland nicht beeinträchtigt. Was für das strukturell andere Europa gilt, sollte erst recht für das parlamentarische Regierungssystem in Deutschland gelten, zumal gerade das jetzige Bundestagswahlergebnis ohne Sperrklausel, oder bei einer noch begründbaren nur Zwei-Prozent-Hürde, die andauernde Unterstützung der Regierung auch in der Gesetzgebung von einer gleichbleibenden Mehrheit, also einer funktionierenden, stabilen Koalition, im Parlament besser getragen wäre als mit dem Ausschluss von drei kleinen Parteien.  Dasselbe gilt konstitutiv für die Bildung einer Regierung. Jede infrage kommende Regierung, jede Koalition, auch eine große Koalition wäre stabiler und besser begründet als mit der erdrückenden, verfassungsändernden Mehrheit. Die Opposition wäre bunt und doppelt so stark wie mit der Fünf-Prozent-Sperre. Beides nahe dem Idealbild einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. Wenn wir nicht aufpassen, könnte der Deutsche Bundestag zu einem Oligopol, zu einem Kartell der dort vertretenen Parteien werden, „weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt aber die Ausgestaltung des Wahlrechts einer strikten verfassungsrechtlichen Kontrolle. Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden.“

Nach dem geltenden Wahlgesetz ist mit der Nichtbeachtung des Gleichheitsgrundsatzes eine gewählte Minderheit aus dem Parlament ausgeschlossen. Aber wie groß eine Parlamentsmehrheit auch ist, sie kann keine Beschlüsse fassen oder unverändert lassen, die Grund- und Menschenrechte verletzt. Erst auf der Grundlage einer die Grund- und Menschenrechte garantierenden Verfassung und der daraus folgenden Gesetze sowie einer funktionierenden Gewaltenteilung sprechen wir heute von Demokratie. Fehlen diese Voraussetzungen, sind Wahlen nicht mehr demokratisch, sondern ein formaler Akt der Regierungsbildung. Keine Mehrheit kann sich anmaßen, darüber abzustimmen, ob ein Grundrecht und seine parlamentarischen Folgen, ein Grundrecht, das allen Bürgern zusteht, für eine Minderheit der Wahlbürger eingeschränkt oder gar aufgehoben werden soll. Ein verfassungsgemäßes Wahlrecht ist das Fundament jeder funktionierenden Demokratie. Der Staat hat unsere Grundrechte nicht zu gewähren, er hat sie zu schützen.

Wenn die Fünf-Prozent-Sperrklausel dennoch beibehalten werden sollte, gibt es nur einen realistischen Weg, den, mit dem die etablierten Parteien diese Hürde bisher begründet haben, der „Zersplitterung“: Eine Wahlrechtsreform mit diesem Inhalt: Auf dem Stimmzettel des Bürgers gibt es neben der Erst- und Zweitstimme eine Ersatzstimme, mit welcher der Name einer weiteren Partei angekreuzt wird. Und zwar für den Fall, dass es der eigentliche Favorit nicht über die Hürde schafft. Ansonsten müsste vor dem Hintergrund des Skandals, dass 15,7 Prozent der Wähler nicht im Bundestag vertreten sind, der Weg vor das Bundesverfassungsgericht angetreten werden. Zum Vergleich: Wegen ein paar Überhangmandaten, die den Wählerwillen verfälschen könnten, wurde das Bundesverfassungsgericht angerufen, aber hier geht es um millionenfache Verfälschung des Wählerwillens und damit um die Gesamtzusammensetzung des Parlaments.

Das noch geltende Wahlrecht, das die Gleichheit der Bürger eklatant verletzt, bei dem 6,8 Millionen Stimmen genullt werden, ist undemokratisch, ist Gift für die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz unseres politischen Systems. Es geht hier nicht um Vorlieben für oder gegen die eine oder andere Partei. Es geht nicht um die eine oder andere Koalition. Es geht um ein Wahlrecht, in dem alle Wählerstimmen nicht nur gezählt werden, sondern zählen. Es geht um das einzige direkte Entscheidungsrecht, das der Bürger bisher auf der Bundesebene hat.

An der Grenze der Verfassungswidrigkeit und der Wählerfeindlichkeit ist die Regelung der Zweitstimme, mit der der Wähler eine Parteilandesliste wählen kann. Aber über die dortige Reihenfolge der Kandidaten, die ins Parlament kommen, darf er nicht entscheiden. Das heißt konkret: De facto entscheiden einige Hundert Parteitagsdelegierte und nicht der Wähler, wer über die Parteiliste ins Parlament kommt und wer nicht. So ist es, bis auf einen hohen Prozentsatz, längst vor der Wahl sicher, wer über die Parteienstimme Abgeordneter wird.

Bei näherer, parteiunabhängiger Betrachtung ist der Deutsche Bundestag ein Parlament der Verlierer, weil seine Mehrheit mitsamt 4 Überhang- und 28 Ausgleichsmandaten aus Abgeordneten besteht, die bei der Erststimme in ihrem Wahlkreis verloren haben und nur über die in der Wahl nicht abänderbare Parteiliste ihr Mandat erhalten haben. Wenn die im Bundestag vertretenen Parteien bereit wären, mehr Demokratie zuzulassen, endlich „mehr Demokratie wagen“, müssten sie bei der demokratisch unabweisbaren Änderung des Wahlgesetzes nur beschließen, dass die Zweitstimme variabel vergeben werden kann. Dass alle Wähler nicht die festgelegte Reihenfolge auf den Parteilisten schlucken, sondern ihre Zweitstimme gezielt einem Kandidaten aus der Liste geben könnten, dem sie im Vergleich zu anderen den Vorzug geben möchten. Sie dürften nicht nur ankreuzen, sondern könnten wirklich auswählen.

Auch hier gibt es noch andere Möglichkeiten, wenn der Gesetzgeber und ggf. das Bundesverfassungsgericht sicherstellt, dass jede Wahl infrage kommt, dass „jede Stimme zählt“, dass jede Stimme für den Ausgang der Wahl das gleiche Gewicht hat auf dem Stimmzettel und im Parlament.

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