Zum Abgrund – und zurück?

Dr. Waldemar Ritter © Ur

Waldemar Ritter

Unter diesem Motto stand die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz. Tatsächlich zeichnete der Vorsitzende der Konferenz, mein früherer Ministerialkollege Wolfgang Ischinger, ein düsteres Bild der akuellen weltpolitischen Gefährdungslage. Dabei hatte er die russisch-ukrainische Krise, den Atomkonflikt auf der koreanischen Halbinsel und den syrischen Bürgerkrieg im Blick, wo sich zuletzt die Konflikte zwischen den Nato-Partnern USA und Türkei, aber auch zwischen Israel und dem Iran dramatisch verschärft haben. Die Sicherheitskonferenz hat keine Sicherheit ausgestrahlt. Sie war in weiten Teilen konfrontativ.

Der lautlose Wirtschaftsimperialismus Chinas, drohende Handelskriege, die gefährlichen Folgen der Migrationskrise in Deutschland und Europa, der Krieg der Information bzw. Desinformation, der Cyber-Krieg und die Nichteinhaltung internationalen Rechts sind nicht zu übersehen. Was in Syrien geschieht, ist der erste im Internet live übertragene Massenmord der Weltgeschichte. Die Gräuel und Zerstörungen des Islamischen Staats, das Leiden von Zivilisten in Idlib, Aleppo und Ost-Ghuta ist ein Leiden, das Präsident Assad befiehlt oder in Kauf nimmt, das die UNO gerade anprangert, aber die mitverantwortlichen ausländischen Mächte nicht benennt. Vor den Augen aller laufen die Bilder des elendigen Sterbens in Echtzeit im Internet. Die Welt schaut weg.
Das Morden muss ein Ende haben. Wir brauchen eine Art Sicherheitsarchitektur für den Nahen Osten. Und diese müsste von den wichtigsten weltpolitischen Akteuren getragen werden, den USA, Russland, China und der Europäischen Union.

Die EU repräsentiert 500 Millionen Menschen, sie ist für viele Länder der wichtigste Handelspartner, aber sie versagt in der Außenpolitik – auch im Nahen Osten. Statt sich untereinander abzustimmen und mit einer Stimme zu sprechen, bereisen europäische Regierungschefs oder Außenminister die Krisenländer einzeln – mit eigener Agenda. Wir haben keine Nah-.Ost-Strategie, wir machen Nahost-Krisen-Tourismus. Das ist defizitär, weil unterkomplex.

Die Weltkrise ist der Nahe Osten, der sich inmitten heftiger Kulturkämpfe befindet, nicht nur zwischen Muslimen, Juden und Christen, sondern auch zwischen Sunniten, Schiiten und Aleviten oder zwischen Türken und Kurden. In jedem Fall geht es um kollektive Identitäten, die sich vor allem aus religiöser oder ethnischer Herkunft speisen und sich zu ihrer Behauptung oder Ausdehnung mit politischer Macht verbinden. Der Westen agiert kurzsichtig: Exportinteressen stehen nicht selten im Vordergrund – selbst gegenüber Regimen, die Stellvertreterkriege führen, die Terror und Gewalt exportieren wie Saudi-Arabien oder Iran.
Statt Waffen in den Nahen Osten zu liefern, sollten die Europäer besser ihre eigenen Armeen gut ausrüsten und ihre Polizeikräfte und Gerichte stärken. Selbstbegrenzung käme im Kampf gegen den Islamismus der eigenen Verteidigung zugute.
Erst wenn die Europäer die Unterschiede der Kulturen wieder klar und deutlich in ihr politisches Kalkül einbeziehen, werden sie in der Lage sein, sich aus den gegenwärtigen Verstrickungen zu lösen. Europa wird die Kulturauseinandersetzungen bestehen müssen, die mit dem Scharia-Islam längst vom Nahen Osten nach Europa, Afrika und ins weitere Asien übergeschwappt sind.

Europa steht nicht am Abgrund, aber mit dem Rücken an der Wand. Europa muss erkennen, dass es sich in einer zunehmend komplizierten Lage stärker um die eigene Sicherheit und die Vielfalt und Stärkung seiner eigenen Kultur kümmern muss. Wir brauchen strukturelle Zusammenarbeit. Wir brauchen keine Einmischung in die demokratischen Prozesse der Mitgliedstaaten. Das gilt besonders für die, die selbst im Glashaus sitzen. Sie sollten auf andere nicht mit Steinen werfen. Deutsche Drohungen und deutsche Moralapostel sind im restlichen Europa nicht gefragt.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junckers Befund ist eine notwendige Mahnung an Europa: „Wir waren lange nicht weltpolitikfähig. Wir müssen uns darum jetzt kümmern – vor allem im Verteidigungsbereich.“ Das Prinzip der Einstimmigkeit muss überdacht werden Es könnte künftig auch durch eine qualifizierte Mehrheit mehr Handlungsspielraum für Europa geschaffen werden. Denn sanfte Kraft ist nicht Kraft genug. Wir wollen transatlantisch bleiben, aber europäischer werden. Wir Europäer müssen uns selbst in die Pflicht nehmen. unser eigenes europäisches Haus in Ordnung bringen. Da muss sich gerade Deutschland konstruktiv positionieren. Über einen zukünftigen Weg Europas, der auch intensive europäische Kooperation nötig macht, um Krisen und Konflikten von Anfang an mit einer gemeinsamen Strategie zu begegnen.

Wenn die Entwicklungen der letzten Jahre eines gezeigt haben, dann doch wohl, dass wir in der Europäischen Union in den großen Fragen stärker kooperieren müssen und die EU sich gleichzeitig in anderen Fragen stärker zurücknehmen sollte. Europa soll die großen Aufgaben lösen, die Nationalstaaten nicht lösen können.
Wir brauchen europäische Antworten auf die Fragen unserer Zeit. Europa ist unser nationales Interesse. Auch Deutschland kann es nur gut gehen, wenn es Europa gut geht.

Der französische Präsident Macron will die Macht der Mitgliedstaaten stärken, der EU-Präsident Juncker will dagegen mehr Macht nach Brüssel ziehen. Beide sagen, dass wir mehr Europa brauchen, um in der Welt zu bestehen: in der Verteidigung, in der Digitalisierung, in der Wirtschaftspolitik, in der Außen-und Verteidigungspolitik. Der Punkt ist, wie man das gestalten kann. Richtig wäre nicht ein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-Auch. Vermitteln zwischen der Macht der gemeinsamen Institutionen und der Macht der nationalen Regierungen. Frankreich ändert sich enorm schnell. Macron gibt in Europa den Takt, das Reformtempo vor. Wenn Optimismus irgendwo berechtigt ist, dann dort. Und Deutschland hat noch immer keine konstruktive Antwort, weil es erstmals ein halbes Jahr brauchte, um eine Regierung zu bilden.

Wir haben über 14000 Kilometer EU-Außengrenzen, deren Schutz und Sicherung zu gewährleisten ist. Wer will, dass die nationalen Grenzen in Europa nachhaltig offen gehalten werden, muss dafür sorgen, dass die Außengrenzen gesichert werden.
Europa ist die größte Friedensversicherung. 70 Jahre ohne Krieg hat es in der deutschen und europäischen Geschichte noch nie gegeben. Damit das so bleibt, bedeutet das heute auch, Unfrieden nicht zu importieren.
Die deutsche Debatte über die Essener „Tafel“ zeigt nicht nur die Konflikte, die durch Einwanderung entstanden sind: in den Schulen, auf dem Wohnungsmarkt oder bei der Sicherheit in den Stadtteilen. Essen ist ein Symptom, es ist ein Menetekel an der Wand, wie einst Belsazar in Babylon. Wann lernt Politik endlich, es wahrzunehmen?

Die europäischen Staats- und Regierungschefs wollen künftig mehr Geld für den Kampf gegen illegale Migration sowie für Sicherheit und Verteidigung ausgeben. Auch für das Bildungsprogramm Erasmus Plus sollen zusätzliche Gelder zur Verfügung gestellt werden. Viele sind bereit, mehr zum EU-Budget beizutragen.
Vor dem EU-Gipfel in Brüssel hat Polen am 21. Februar die Forderung der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Angela Merkel zurückgewiesen, die Verteilung von EU-Geldern an Bedingungen zu knüpfen, die den Graben zwischen Deutschland und Europa vertiefen und das demokratische Selbstverständnis jedes europäischen Landes berühren.

Zu diesem politischen. Manöver sagte der polnische Europaminister Konrad Szymanski, die polnische Regierung werde alles tun, um einen politischen Konflikt zu vermeiden. Aber Polen erwartet auch, dass seine Partner auf unsere Vorstellungen eingehen. Warschau werde „niemals zulassen, dass seine „Kompetenzen im Bereich der Außengrenzkontrolle und Migration ausgehebelt werden. Eine Umverteilung von Flüchtlingen nach Quoten wird Polen unter keinen Umständen akzeptieren“. Sollte es per Mehrheitsbeschluss verabschiedet werden, werde dies „zu einer echten politischen Krise mit weitreichenden Folgen für die Einheit der Union führen.“ Das ist Klartext. Wir haben genug Spaltung in Europa gehabt. Merkel war hier mutterseelenallein. Muskelspiele waren früher ein Privileg der Deutschnationalisten. Heute gibt es das auch von links. Bei Maybrit Illner mahnte Leni Breymeier, die Vorsitzende des Landesverbandes der SPD in Baden Württemberg, wieder mal zur Solidarität der EU-Staaten bei der Bewältigung der deutschen Flüchtlingskrise und sagte: „Da müssen wir die Osteuropäer an die Kandare nehmen“. Die werden das bestimmt gerne hören, erinnert sie das doch wieder an die Kandare, an die Deutschland sie von 1939 bis 1945 genommen hat.

Keiner hat sich wie im Herbst 2015 auch nur ansatzweise um Merkels Ansinnen geschert. „Ce n‘était pas la France, qui a dit: venez“, beschied sie kühl der damalige französische Premier Manuel Valls. Frankreich habe nicht in die Welt hinausgerufen: „Kommt her. Wir haben niemand eingeladen!“

Was Europa dringend braucht, ist ein gemeinsames Asylrecht! Die zunächst als Großtat gefeierte Entscheidung, jedes Individuum von außerhalb der EU mit einem einklagbaren Rechtsanspruch auf Prüfung seines Asylrechts oder subsidiären Aufenthaltsrechts auszustatten, hat sich seit 2015 als unhaltbare Einladung zur Masseneinwanderung herausgestellt. Deutschland könnte zusammen mit den europäischen Regierungen für den Kontinent und seine Glaubwürdigkeit viel tun, wenn es den Fehler korrigierte.

Europa darf nach Großbritannien kein weiteres Land verlieren. Europa braucht jeden europäischen Staat. Deshalb ist es gut, wenn wir den Westbalkanstaaten den EU-Beitritt in Aussicht stellen. Das Jahr 2025 ist ein indikatives Datum, ein Ermunterungsdatum, die Voraussetzungen zu schaffen. Die EU hat ein eigenes Interesse, die Länder an sich zu binden. Entweder exportieren wir Stabilität oder wir importieren Instabilität.
Eine solche Strategie für eine „glaubwürdige Erweiterungsperspektive“ gilt auch als Antwort auf Versuche der politischen Einflussnahme durch Russland in der Region des ehemaligen Jugoslawien und auf ein sprunghaft wachsendes wirtschaftliches Engagement Chinas.

Die Aufnahme neuer Mitglieder müsste von den bisherigen EU-Staaten einstimmig beschlossen werden. Hier ist Solidarität der Europäer gefragt, wie bei der Frage der riesigen Ungleichheit der Lebensverhältnisse in Europa, die vergleichsweise größer ist als in den USA.

Am Anfang des deutschen Koalitionsvertrages 2018 steht:

Ein neuer Aufbruch für Europa
Eine neue Dynamik für Deutschland
Ein neuer Zusammenhalt für unser Land
Ich hoffe das kommt zustande
Und es bleibt nicht nur eine schöne Überschrift
Ostern ist ja Wiederauferstehung

Hoffentlich kennt der neue Außenminister den Unterschied beim Ei aufschlagen: am kurzen Ende ist Liliput, am dicken Ende ist Blefuscu. Wer in unserer europäischen Kultur zuhause ist, weiß, was das bedeuten kann.

Der Text vom 19.02. wurde ergänzt am 10.03.2018