Quo vadis, Europa – wohin gehst du, alter Kontinent?

Gisbert Kuhn © KABINETT

In der Mehrfachkrise
Kein Zweifel: Die EU steckt in der wahrscheinlich tiefsten Krise ihres Bestehens. Es ist eine Sinnkrise, eine Vertrauenskrise, eine Finanzkrise, eine Identitätskrise und auch eine Solidaritätskrise. Auch wenn das ursprüngliche Ziel einer politischen Union nicht erreicht wurde, so hatte man sich in Brüssel und den Hauptstädten doch immer gern gerühmt, eine „Wertegemeinschaft“ zu sein. Ein Verbund also von Staaten und Völkern, geleitet von den gleichen Prinzipien und Idealen: Demokratie, Marktwirtschaft, Humanismus, Toleranz und Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe.

Gerade in diesen Tagen zeigt sich jedoch, wie dünn in Wirklichkeit der Boden ist, auf dem das europäische Konstrukt steht. Im Falle der Flüchtlinge weigert sich die Mehrzahl der EU-Mitgliedsländer nicht nur, diese Menschen in Not auch bei sich aufzunehmen. Ja, sie lehnt es sogar schlichtweg ab, sich überhaupt an der Entschärfung des Problems zu beteiligen. Und was den „Finanzpatienten“ Griechenland anbetrifft, so ist es zwar ohne Zweifel richtig, den diversen Athener Regierungen unglaubliche Misswirtschaft über viele Jahre vorzuwerfen. Es ist allerdings zugleich wohlfeil und heuchlerisch, weil sowohl die Brüsseler EU-Kommission als auch alle nationalen Regierungen den Hellenen dennoch den Weg zum Euro freimachten. Die Erbsünde ist mithin beidseitig.

Der willkommene Sündenbock
Andererseits ist allerdings unbestreitbar, dass die Europäische Union seit ihrer Gründung bedeutende Leistungen vollbracht hat. Auch wenn es in der Öffentlichkeit kaum noch als Erfolg gewertet wird, steht dabei die Sicherung des Friedens ganz oben. 70 Jahre ohne Krieg auf einem Kontinent, auf dem über viele Jahrhunderte ein Konflikt den anderen ablöste und damit Leid und Elend über seine Bewohner brachte! Und dass – darüber hinaus – dieser vor 70 Jahren total zerstörte und demoralisierte Erdteil innerhalb einer unglaublich kurzen Zeit zu einem niemals erträumten Wohlstand wachsen konnte, ist ohne die EU auch nicht denkbar. Ähnliches gilt für das erfolgreiche „Abfedern“ der gewaltigen Turbulenzen nach dem Zerfall des Sozialismus.

Doch in der Alltagsrealität ist davon nichts zu hören. Wohin auch immer man sich wendet, fast überall ist nur Klage, Jammern und Missmut zu vernehmen. Das hat durchaus Tradition. Wenn etwas – politisch oder wirtschaftlich – gut lief in der Gemeinschaft, steckten sich in aller Regel die nationalen Politiker die Federn an den Hut. Kam hingegen Kritik auf, wies man stets gern auf „die da in Brüssel“ hin. Die dortigen „überbezahlten und unterbeschäftigten Bürokraten“ gaben immer einen willkommenen Sündenbock ab. Und zwar auch dann, wenn die Ursache des Versagens eindeutig im nationalen Bereich lag. Das ist bis heute so geblieben. Anders hätte sich, zum Beispiel, die Mär von der angeblich von „Brüssel vorgeschriebenen“ Krümmungsneigung der Gurke gar nicht so lange halten können.

Es fehlen Ziele, Wille und Köpfe
Es wäre ziemlich leicht, eine Aufstellung all der Unsinnigkeiten zu machen, die auf den nationalen Ebenen im Laufe der Jahre ausgedacht wurden, um dann – mit Erfolg medial verbreitet und vom öffentlichen Glauben gern begleitet – nach Brüssel geschoben zu werden. Die Deutschen nähmen dabei übrigens durchaus einen Spitzenplatz ein. Doch jetzt geht es nicht mehr um solche im Grunde doch nur Neben- sächlichkeiten. Mit dem Übergang ins 21. Jahrhundert ist in und für Europa die Luft spürbar rauer geworden. Die EU steht vor der entscheidenden Frage, ob und wie sie sich endlich fit machen kann für die Bewältigung der Zukunft, oder ob sie sich – von wachsenden Partikularinteressen gelenkt – Stück für Stück auflöst und als eine Ansamm- lung von Kleinstaaten in der weltpolitischen Bedeutungslosigkeit versinkt.

Spätestens seit ihrem lawinenhaften Anwachsen nach dem Ende des Kalten Krieges hat es die Gemeinschaft sträflich versäumt, sich selbst einen Weg vorzugeben. Genauer: Es sind die nationalen Regierungen, denen dieses Versäumnis anzulasten ist. In diesen Jahren „globalisierte“ sich die Wirtschaft, China stieg zur Weltmacht auf, in Asien und Lateinamerika entstanden neue Kraftzentren, aus dem Nahen Osten und Nordafrika erwuchsen bis dahin noch nie gekannte, terroristische Gefahrenherde. Und Europa? Es zerstritt sich derweil über regionale Spezialitäten wie fränkisches Bier und Thüringer Bratwürste. Und steht zurzeit ebenso fassungs- wie hilflos vor der Frage, ob, wie und womit vor der Haustür schwelende Brände wie der Konflikt um die Ukraine ausgetreten werden könnten.

Man kann es drehen und wenden wie man will – die Lage in der EU gibt nicht viel Anlass für Optimismus. Es fehlt an drei wesentlichen Dingen: An konkreten Zielen, an gestaltenden Köpfen und am erkennbaren Willen, einen als richtig entschiedenen Weg auch unbeirrt zu verfolgen. Es gibt keinen „Hannemann“, der vorangeht. Wahrscheinlich würde er auch gar nicht akzeptiert werden. Da wäre zum Beispiel Deutschland – mitten in Europa gelegen, ohne jeden Zweifel politisch pro-europäisch ausgerichtet, wirtschaftlich stark usw. usw. Aber das geht doch nicht, murmeln die Franzosen und Italiener und grummeln die Briten. Das könnte zwischen Rhein und Oder doch leicht zu hegemonialen Gedanken verführen…

Wer dann? Natürlich wäre ein Zusam- mengehen von Berlin und Paris das Beste, Klügste, Erfolgversprechendste. Noch besser Arm in Arm auch noch mit London. Nur: Eine solche Chance deutet sich nicht einmal am fernen Horizont an. Stattdessen wachsen anderswo Wucherungen, die exakt dem entgegenstehen, was einstmals mit der „Wertegemeinschaft“ beschworen worden war. Zum Beispiel die Entwicklung in Ungarn hin zu einem fast schon diktatorischen Regime. Ist es da verwunderlich, dass die Frage immer lauter und banger wird: Quo vadis, Europa? Wo soll es hingehen?

Gisbert Kuhn

Kurzporträt

Gisbert Kuhn ist Journalist, dessen Laufbahn 1962 in Mainz begann. Im Oktober 1965 ging er (damals jüngstes Mitglied der Bundespressekonferenz) nach Bonn, wo er als innenpolitischer Korrespondent hauptsächlich für Zeitungen, aber auch für Hörfunk und Fernsehen tätig war. Im Januar 1992 Wechsel nach Brüssel und bis Dezember 2004 Berichterstattung über die Europäische Union und die NATO. In diesen spannenden Jahren vollzogen sich so historische Ereignisse wie das Ende des Ost/West-Gegensatzes und (gleichermaßen positiv wie negativ) die Erweiterung der EU bis auf heute 28 Mitgliedstaaten.

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