Günter Grass oder das unweite Feld eines außerordentlichen Schriftstellers – von Waldemar Ritter

Günter Grass © Günter Grass-Haus, bg jpt

Ja, geht‘s noch! Haben diese Leute des Elativ keine anderen Bücher gelesen oder den Grass nur als Dekoration im Bücherschrank stehen? Ihn den „Größten“ zu nennen, ist eine Beleidigung für Heinrich Heine, Schiller, Büchner oder Fontane, für Thomas und Heinrich Mann, für Erich Maria Remarque, für Bert Brecht, für Siegfried Lenz und sehr viele andere verstorbene deutsche Dichter. Und auch heute gibt es nicht wenige, die ihm das Wasser reichen können Von den nichtdeutschen Klassikern nicht zu reden.
In den Jahren nach dem Krieg waren Schriftsteller wie die Gruppe 47 wertvolle Helfer auf dem Weg zu einer kritischen Öffentlichkeit. Das hat schon  Hefe in den öffentlichen Sauerteig gebracht.

Grass war von Anfang an ein großer Literat neben großen Anderen. Er war der größte, der beste und der erfolgreichste Vermarkter seiner selbst und seiner Werke. Ein Medienprofi. Er wurde 1999  deutscher Literaturnobelpreisträger nach Hermann Hesse, Nelly Sachs und Heinrich Böll und vor Herta Müller.

Die besten Kritiken über ihn haben Marcel Reich-Ranicki und Helmut Karasek noch zu seinen Lebzeiten  geschrieben. „Hängt ihn tiefer“, schrieb Henryk M. Broder. Dessen Begründung übernehme ich.

Im Erscheinungsjahr 1959 hatte ich die „Blechtrommel“ gelesen, sein erstes und für mich sein bestes Buch. Er hat darin „der Gesellschaft“ den Spiegel vorgehalten. Es war die Beschreibung der kleinbürgerlichen Welt der Nazi und der ersten Jahre der Nachkriegszeit aus der Sicht eines trommelnden und kreischenden Giftzwerges.
Aber anders als der kleine Oskar war – wie sich sechs Jahrzehnte später herausstellte – Grass als Jugendlicher gegen die Lockungen  und Verführungen des Nationalsozialismus nicht immun.

Erstmals begegnete ich Günter Grass Anfang der sechziger Jahre  Ich habe ihn zum ersten großen jugendpolitischem Forum zusammen mit Jungsozialisten, den Falken und dem Sozialdemokratischen Hochschulbund in den Saal eingeladen, in dem die SPD 1959 ihr wegweisendes  Godesberger Grundsatzprogramm beschlossen hatte, Wir, die Kriegskinder, die weißen Jahrgänge wollten neu beginnen, vor allem an der Seite der sozialdemokratischen  Widerstandskämpfer, den Überlebenden aus den Konzentrationslagern und den politischen Emigranten, die von Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer bis Waldemar von Knöringen,  Willy Brandt oder Ernst Reuter Vorbilder für uns waren, wie die ermordeten Geschwister Scholl und der Leipziger Student  Herbert Belter. Wir wollten aber auch der sogenannten „Flakhelfergeneration“, zu der Grass gehörte,  Brücken bauen. Wir wollten „Licht über das Land“,  wir wollten die Intellektuellen, die Wissenschaft und Kultur aus Vergessen, Verdrängung und ihren Elfenbeintürmen herausholen. Unsere Demokratie hatte – das spürten wir alle – noch keinen festen Grund. Wir haben die Zeit der fünfziger Jahre ganz anders erlebt, als Grass sie beschrieben hat. Eher wie sein gleichaltriger Kollege Peter Rühmkorf sie wahrgenommen hat.. Eine Zeit geradezu anarchischer Freiheit, die Aufklärung verlangte, die sich  mit der „Banalität des Bösen“ auseinandersetzte, wie das 1961 Hannah Arendt auf den Punkt brachte. Eine Zeit des Experimentierens, ohne Regeln und von keinerlei Gewissheiten belastet. Daneben kam das „Wirtschaftswunder“ nicht vom Himmel.  Deutschland wurde zum ersten Mal Fußballweltmeister, und in Bayern war ich 1954 als Student selbst an dem Wahlkampf beteiligt, dessen  Ergebnis  die CSU – bis heute einmalig – aus der Regierung in die Opposition schickte. Doch die Bevölkerung war in ihrer Mehrheit noch manchen alten Denk- und Verhaltensmustern verhaftet geblieben. Grass kam 10 Jahre später in die politische Öffentlichkeit. Grass ging  mit dem Genossen Trend. Grass machte mit uns Wahlkampf für Willy Brandt und gegen den „Dicken“, den damaligen Bundeskanzler Ludwig Erhard, der den kritischen Rolf Hochhut als „Pinscher“ bezeichnet hat.

Die Zeit der Veränderung, die Versöhnung zwischen Politik, Macht und Geist fand in Grass einen der Meister des Wortes. Obwohl schon damals sichtbar wurde, dass Grass  „mittelpunktsüchtig“ war. Für mich war das zusammen mit den anderen Schriftstellern und Künstlern nicht nur Wahlkampf, es war ein politisches, intellektuelles Vergnügen. Mit uns ging die Neue Zeit.

Was später kam, waren dritte und vierte Aufgüsse, schlechte Kopien von Kopien. Grass war immer weniger auf der Höhe der Zeiten, Zeiten, für die er so nicht eingetreten ist. Dass seine politischen Analysen häufig auf Sand bauten, war nichts Neues, das teilte er mit vielen anderen, die den „Mantel Gottes in der Geschichte“ nicht rauschen hörten.  Aber als der sozialdemokratische Bürgermeister mit dem roten Schal, Walter Momper, am 3. Oktober 1990 die Worte sprach: „Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt“, da fühlte sich Grass nicht gemeint. Er hat das Wort Wiedervereinigung ohne e geschrieben.
Die deutsche Teilung war ihm die gerechte „Strafe für Auschwitz“, die DDR kein Unrechtsstaat, sondern eine „kommode Diktatur“. Er konnte so dröhnen, weil er „die Strafe für Auschwitz“ nicht in der DDR, sondern in der kommoden Bundesrepublik absitzen konnte, deren Kulturbanausen solche Narreteien mit Applaus belohnten.

Trotzdem, Grass war und blieb streitbar, aber immer stärker umstritten. Was für ihn in den   sechziger Jahren einem bestimmten Geist der Zeit entsprach, war spätestens  mit der Revolution in der DDR und in Mittel- und Osteuropa zur kläglichen Formelhaftigkeit geworden. Ich selbst habe durch  die  Auseinandersetzungen mit ihm meine eigenen Analysen und Argumente schärfen können.
Was mich entsetzte, war, dass einer, der mit mir gegen das weit verbreitete Verdrängen und Vergessen in der Nachkriegsgesellschaft eingetreten war, 60 Jahre brauchte, um seine eigene Verdrängung, sein Verheimlichen und Verschweigen seiner SS- Mitgliedschaft  einzugestehen. Damals habe ich geschrieben: „Grass muss sich an den Maßstäben messen lassen, die er selbst gegenüber anderen angelegt hat“.  1985 war er noch die wortgewaltige Speerspitze der Kampagne gegen den Besuch von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg gewesen, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS liegen. Auch er hätte dort liegen können. Keine Selbstkritik. Oder sein Brief an den damaligen Wirtschaftsminister und Parteifreund Karl Schiller: „Bei nächster Gelegenheit – und zwar in aller Öffentlichkeit“, schreibt Grass am 15.Juli 1969,  „wenn Sie sich offen zu Ihrem Irrtum in der Nazizeit“ bekennen wollten. Die „nächste Gelegenheit“ kam für Grass selbst erst 37 Jahre später.
Der berühmte Dichter, der große Moralist und Warner als „Heuchler“ und personifizierte Geschichtsbeschönigung

Grass, der an den Endsieg der Nazis geglaubt und die Berichte über Konzentrationslager und die systematische Ermordung der Juden für Propaganda der Alliierten gehalten hat, hat die schreckliche Wahrheit erst akzeptiert, als sein „Reichsjugendführer“ Baldur von Schirach beim Nürnberger Prozess die Gräueltaten der Nationalsozialisten bestätigte. 1946, als wir Kinder im Unterallgäu und in Augsburg schon längst gehört hatten, was in Dachau geschehen war.

Das gilt in anderer Weise auch für das vor drei Jahren von ihm verfasste Pamphlet „Was gesagt werden muss“, dessen politische Stoßrichtung nicht nur eine völlige Verkennung der Realitäten im Nahen und Mittleren Osten  darstellt. Dass der islamistische Fundamentalismus wie der „Islamische Staat“ eine Gefährdung des Weltfrieden ist, hat der zu oft apokalyptische Mahner bis zu seinem Tode nicht bemerkt. Sein sogenanntes  „Gedicht“ zeigte auch, dass Grass von Neigungen  und Verallgemeinerungen nicht frei war, auf die Antisemiten, Neonazis und Links-Reaktionäre sich berufen. Da gibt es nicht selten motivierende Parallelen zum Rechts- und Linksextremismus in Deutschland.

Grass hat sich beschwert, dass man heute auf Schriftsteller nicht mehr hört. Auf einige, die viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren haben, offensichtlich  nicht. Hat er nicht zugehört, als Wladyslaw Bartoszewski, der polnische Auschwitz-Häftling mit der Nr. 4427, im Deutschen Bundestag sprach, oder wie vor einem Jahr der von der DDR „ausgebürgerte“ Wolf Biermann mit seiner Gitarre sich am selben Ort von niemandem den Mund verbieten ließ.

Zuletzt hatte Grass Sorge, dass man sich nicht mehr an ihn erinnern wird. Das glaube ich nicht.
Für mich ist er ein herausragendes Beispiel dafür, wie junge Menschen seines Formats, seiner Intelligenz von totalitären Ideologien verführt werden können. Und sich verführen lassen. Daraus sollten wir auch heute wieder lernen. Seine SS-Zugehörigkeit hat Grass 60 Jahre verheimlicht. Den Literaturnobelpreis hat er verdient, aber erschlichen. Ich stimme mit Günter Grass in einem voll überein:  „Was richtig ist, muss gesagt werden, auch wenn wieder mal die falschen Leute applaudieren:“ Die Frage ist nur, was ist richtig.  Ich glaube, Grass wollte nichts falsch machen und hat alles falsch gemacht, auch was moralisch gut gewesen ist. Das und die „Blechtrommel“ werden bleiben. Mit der ganz großen Größe habe ich meine Zweifel.  Auf dem Grund der Moldau  wandern die Steine.


Waldemar Ritter Foto: Hartmut Bühling

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