Sonderausstellung im Museum August Macke

Robert Abts: Samuel Beckett, 2004, Baumwollfaden auf Wollfilz 110 x 140 cm. © Foto: Peter Köster

„Mit Stich und Faden  Expressionistische und zeitgenössische Kunst im Gegenüber“

Die Ausstellung ruft familiäre Kindheitserinnerungen wach. Deutlich treten Bilder vor Augen von der Großmutter, die zumeist am Sonntag in der „guten Stube“ sitzt und eine Tischdecke stickt. Sticken als kreativer Zeitvertreib. Sticken als Frauendomäne. Nicht so in der aktuellen Ausstellung, „Mit Stich und Faden. Expressionistische und zeitgenössische Kunst im Gegenüber“, die das Museum August Macke Haus bis zum 7. Juni zeigt. Die Schau räumt auf mit dem Klischee, das dieses textile Handwerk nur Frauensache sei. Viele bedeutende Künstler wie u.a. Wassily Kandinsky, Ernst Ludwig Kirchner, August Macke, Franz Marc, gingen virtuos mit Nadel und Faden um. Christian Rohlfs, Fifi Kreutzer und Marta Worringer sprengten in revolutionärer Manier dabei die Grenzen zwischen freier und angewandter Kunst. Sie gestalteten Stick-Bilder, die wie ein Gemälde im Rahmen an der Wand hingen und in aufwändiger Nadelmalerei ausgeführt sind.

Christian Rohlfs: Ehestreit um 1908 49 x 84 cm © Foto: Peter Köster

Bereits beim Betreten der Ausstellung drängt sich ein bunt bestickter Sessel ins Blickfeld des Betrachters.
„Für Maria“, nennt die Künstlerin Claudi Kallscheuer ihr Werk. „Sie arbeitet mit Fundstücken, die zum Bildträger werden“, sagt Kuratorin Dr. Ina Ewers-Schultz. Auf Basis der zahlreichen Stickereien, die Elisabeth Macke, ihre Mutter Sophie Gerhardt und ihre Großmutter Katharina Koehler nach Entwürfen von August Macke ausführten, untersucht die Ausstellung im Macke-Haus erstmals das Phänomen des Stickens, innerhalb der Kunst des Expressionismus.

Claudia Kallscheuer: „Für Maria”, 2018, Sessel, Stickerei, Faden.
© Foto: Peter Köster

Die Schau wirft mit herausragenden Arbeiten einen Blick auf ein bisher wenig beachtetes Thema: Stickerei in der Kunst. Ausgesuchte Objekte dieser Epoche treffen auf signifikante Positionen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, die sich diesem besonderen Medium in ihrem künstlerischen Schaffen verschrieben haben. In der Sonderausstellung führen Werke der klassischen Moderne und zwölf spannende Positionen der Gegenwartskunst einen Dialog.

„Wer stickt, spinnt nicht“, formulierte einst der frühere Direktor des Museums für Moderne Kunst, Jean-Christophe Ammann, als er die Laudatio auf den späteren Barlach-Preis-Träger Jochen Flinzer hielt. Flinzer ist als zeitgenössischer Künstler Teil der Ausstellung. Der 1959 geborene Künstler, der heute an der Akademie für Bildende Künste in Nürnberg lehrt, hat mit seinen Stick-Arbeiten Furore gemacht. Barbara Wrede zeichnet mit dem Faden ihren figurativen Kosmos. Spannend auch die Erinnerungsarbeit von Sylvia Hauptvogel, die ein Fotoalbum inklusive der Transparentblätter mit abstrakten Stickereien versehen hat. Gisoo Kim greift in ihrer Stickerei in ihre eigenen Schwarz-Weiß-Fotografien ein, indem sie den Bildträger durchsticht und mit farbigen Fäden durchzieht. Während Robert Abts Gedankenverbindungen ins Dreidimensionale überführt, tastet sich Angelika Frommherz mit ihren fragilen, reliefartigen Arbeiten in den Raum vor. Alexandra Knie untersucht in ihrem dunklen Virenraum die Überschneidung von Kunst, Handwerk und Wissenschaft und trifft hiermit voll den Zeitgeist mit seiner erschreckenden Aktualität. Vanessa Oppenhoff erfindet ironisch-bissige Comicgeschichten als Kommentare zum aktuellen Zeitgeschehen. „Es sind die gesellschaftlichen Rollenverhältnisse und allgemeine Fragestellungen, die in den zeitgenössischen Arbeiten thematisiert werden “, sagt die Kuratorin Ina Ewers-Schultz.

Franz Marc/Maria Marc. Rehe um 1814/15 Stickerei 14,8 x 9,7 cm.
© Foto: Peter Köster

Doch wie gehen Künstlerinnen und Künstler heute mit diesem Medium um? Was fasziniert an der uralten, kleinteiligen und äußerst zeitaufwändigen Technik? Längst geht es heute nicht mehr um die Grenzüberschreitung von Kunst und Handwerk. Vielmehr wird die Stickerei als künstlerisches Ausdrucksmittel gesehen, das in den letzten Jahrzehnten immer mehr Einzug in die Bildende Kunst fand und heute dort nicht mehr wegzudenken ist. Wie andere Handarbeiten auch ist Sticken heute wieder überall präsent: in der Mode, in der Raumdekoration wie in der Kunst. Malerei wurde in den Raum und damit in den Alltag übertragen.

Mit Stich und Faden können winzig kleine Kunstwerke oder auch ganze Rauminstallationen entstehen. Der Umgang mit dem Material weist eine ebenso große Bandbreite auf wie der inhaltliche Radius. Biographische, gesellschaftspolitische und konzeptionelle Ansätze finden auf unterschiedliche Weise ihre Umsetzung. Manchmal entstehen in einem Arbeitsprozess gleichzeitig zwei Kunstwerke, wenn beide Bildseiten als eigenständig aufgefasst sind und ihre Gestaltung von vorn herein mitgedacht ist. Offensichtlich kann die kontemplative, auf die Hände konzentrierte Tätigkeit auch therapeutische Wirkung haben und zugleich Kunst von Weltrang hervorbringen. Die spät gewürdigte japanische, ewig jung erscheinende Yayoi Kusama (geb. 1929) hat ihre Ängste vor der Sexualität sozusagen Stich um Stich abgearbeitet. Eine Künstlerin der jüngeren Generation wie Rosemarie Trockel, verblüffte in den 1980er Jahren mit ihren maschinellen Strickbildern und -objekten.

Peter Köster