Alles wird anders

Waldemar Ritter @ KABINETT Verlag

Waldemar Ritter    

Interview am 12.03.2020

K: Der Kampf gegen das Coronavirus ist die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Moment ist Abstand Ausdruck von Fürsorge. Woran erinnern sie sich.

R: Ja, ich habe wieder an Bert Brecht gedacht: „Denken ist etwas, das auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorausgeht“. Und ich habe damals Albert Camus und „Die Pest“ gelesen. Was macht eine Extremsituation mit Menschen? Camus ruft in „Die Pest“ zu Solidarität, zu Bescheidenheit und Liebe auf. Und dieses Jahr wollte ich zum dritten Mal in meinem Leben zu den Passionsspielen in Oberammergau, die jetzt wegen Coronavirus auf das Jahr 2022 verschoben werden müssen. Diese Passionsspiele gibt es schon seit dem Jahr 1634, sie gehen aus ein Gelöbnis zurück. Man versprach Gott ein Spiel der letzten 6 Tage Jesu, wenn er das Dorf von der damals grassierenden Pest erlöse. Allerdings ist die Pest nicht Corona. Und Gott sei Dank sind wir heute darüber hinaus, eine Pandemie als Strafe Gottes zu verstehen.

Und jetzt?

Jetzt ist die Zeit des Handelns. Die Coronaepedemie zeigt, wie verwundbar wir alle sind. Die Gesundheit und Leben der Menschen ist in höchster Gefahr.
Die Demokratie steht vor einer noch nie zu bewältigenden Aufgabe.
Europas Volkswirtschaften „in kriegsähnlichen Zeiten“
Das alles ist offensichtlich. Wir brauchen einen umfassenden Kampf auf allen Ebenen. In dieser Ausnahmesituation ist jeder gefragt.
Deutschland braucht jetzt eine Vollbremsung, einen Lockdown. Einschränkung der Freiheit und Bürgerrechte ist nur zeitlich vertretbar. Wir alle müssen solidarisch sein.

K: Wie meinen Sie das?

Das Coronavirus ist die größte Herausforderung für unser Land und für unsere ganze Gesellschaft. Das Virus wird sehr lange das öffentliche und private Leben in Deutschland massiv beeinflussen, einschränken und begrenzen. Unser aller Sicherheit geht vor – auch vor wirtschaftlichen Interessen. Unser Umgang miteinander war in jüngster Zeit zu oft von Wut und Misstrauen geprägt. Nun merken wir wieder: Wir brauchen einander. Es ist richtig, alles dafür zu tun, die Ausbreitung des Virus in Deutschland einzudämmen und zu verlangsamen, gerade weil wir wissen, dass er die Mehrheit der Bevölkerung erreichen kann. Dabei muss natürlich die Funktionsfähigkeit des Staates gewahrt werden, und auch die Kernbereiche der Wirtschaft müssen weiter funktionieren. Ökonomen fürchten „Erwartungskrise“. Politik muss psychologischer Eigendynamik in Folge der Pandemie entgegenwirken.

K: Wir sind noch am Anfang der Krise. Kanzlerin Merkel wird sich kümmern und hat zur Solidarität aufgerufen:„Da sind unsere Solidarität, unsere Vernunft, unser Herz füreinander schon auf die Probe gestellt.“

R: Warum ist das nur eine Probe – nicht der Ernstfall? Und warum wünscht Sie nur was? Das klingt fast wie „Wir schaffen das“, nur in der Magerstufe. Die Frage ist, könnte es nicht hier ein bisschen mehr „Wir schaffen das“ sein. Die Coronna Pandemie stellt den Staat und die politische Führung vor ihre vordringlichste Aufgabe: die Bürger zu schützen. Unsere bewussten Wissenschaftler, unsere Virologen sagen, was ist und geben die richtigen Informationen und Hinweise. Aber die notwendigen – auch harten Entscheidungen – hat die Politik zu treffen. Ich denke nicht in Freund-Feind-Kategorien. Aber: Hier bei diesem Virus haben alle denselben Feind. Die Krise ist umfassend.
Der Bundesgesundheitsminister hat seinen Job von Anfang an hervorragend gemacht.
(Und zwar schon zu einem Zeitpunkt, als entschlossenes handeln anderer längst angezeigt gewesen wäre.)
Der Bundesfinanzminister hat die Waffen auf den Tisch gelegt.
Der Bayerische Ministerpräsident ist der konsequente Antreiber in der Coronakrise.

Von den Bürgern wird eine etwas paradoxe Art von Solidarität gefordert: Unterlassung und Abstand untereinander halten. Man hilft sich, indem man auf die gewohnten Formen der Gemeinschaftlichkeit verzichtet. Selbst Grenzschließungen können in dieser Lage ein Akt der Solidarität sein, da die von ihr im besten Fall bewirkte Eindämmung der Infektionen dann auch dem Nachbarland hinter der Grenze zugutekommen.
Wenn es gelingt, die Infektionsrate abzubremsen, gewinnen auch Mediziner und Forscher mehr Zeit um lebenswichtige Therapien zu finden – und zu erproben. Und egal, wie weit man inzwischen ist: Wir werden weiterlernen müssen. Ein Kraftakt für Medizin, Forschung und Gesellschaft.
Aber ich wiederhole: Deutschland braucht jetzt eine Vollbremsung, ein zeitlich begrenzter Lockdown.

K: Heute haben sich Bund und Länder auf ein rigoroses Paket gegen die Verbreitung des Coronavirus geeinigt.

R: Ja, es sind beispiellose Maßnahmen, die die Bundeskanzlerin persönlich verlesen hat. Das sind drastische Maßnahmen, die es in unserem Land noch nie gegeben hat. Eine lange Liste von Regelungen und Verboten, die es in 70 Jahren Bundesrepublik Deutschland noch nie gegeben hat. Es geht darum, soziale Kontakte auf wenige Personen zu reduzieren, und Abstand halten. Das wirtschaftliche Leben, die Energieversorgung und die medizinische Versorgung müssen aufrecht erhalten werden, denn das Gesundheitssystem soll nicht überfordert werden. Die Umsetzung liegt bei den Ländern und Kommunen. Natürlich muss es Kontrollen geben.
Die Kanzlerin hofft, dass es „ein gewisses Einsehen der Menschen gibt“. Es ist beispielsweise sinnlos, eine Schule zu schließen, wenn sich die gleichen Schüler dann woanders treffen. Oder die Coronaparties der Schickeria. Noch gestern, am 11. März standen hundert eher ältere Leute in einem Berliner Auktionshaus eng gedrängt bei einem Vortrag und griffen danach beim kostenlosen Wein begeistert alle zusammen in eine Schale mit Parmesanbröseln; Virologen hätten einen Herzinfarkt bekommen. Wir kommen desto schneller durch diese Phase hindurch, je mehr sich jeder Einzelne an diese Auflagen und Regelungen hält.

K: Glauben Sie, dass die jetzigen Maßnahmen angemessen sind?

R: Sie sind notwendig, aber reichen nicht aus oder werden nicht umfassend durchgesetzt. In dieser Lage reichen nicht 6 Empfehlungen. Hier müssen die Regeln verbindlich entscheiden und bei Verstößen sanktioniert werden. Markus Söder hat gestern den Katastrophenfall für den Freistaat Bayern ausgerufen. Österreichs Bundeskanzler Kurz oder der französische Staatspräsident Macron gehen noch weiter, sie sind, wie die meisten europäischen Staaten für Ihre Länder noch rigoroser und konsequenter als wir in Deutschland. Wenn sich in dieser bedrohenden Notsituation viele Menschen nicht freiwillig beschränken, dann bleibt am Ende auch in Deutschland nur eine grundlegende Ausgangsbeschränkung als wirksames Instrument. Da kann die deutsche Politik nicht endlos zuschauen und gute Reden halten. Wobei die unterschiedliche Betroffenheit der Nationalstaaten, aber auch die der Bundesländer zu beachten sind.

K: An wen halten sie sich?
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R: Es geht um die richtigen Entscheidungen, es geht um Vernunft. Ich halte mich an die Wissenschaft, die Erkenntnisse und die Einschätzungen der Hopkinsuniversität des Robert-Koch Instituts. Sie sind wissenschaftlich fundiert und wegweisend. Das RKI hält stärkere Maßnahmen für nötig. Die Lage ist nicht nur dynamisch, sie ist dramatisch: Die Risikoeinschätzung „ist ab heute als hoch einzuschätzen.“ Es sind stärkere Maßnahmen notwendig, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Ein Problem sind die Infektionsketten. Es gibt immer mehr Fälle, die nicht mehr auf bekannte Fälle zurückzuführen sind.
Zurzeit ist Europa im Fokus der Pandemie. Die verhängten Einschränkungen der Staaten im Kampf gegen das Virus könnten lange in Kraft bleiben. Die Coronakrise wird das Land noch monatelang beschäftigen, fürchtet der Präsident des RKI und verdeutlicht: Wenn wir es nicht schaffen, die Kontakte der Menschen über die nächsten Wochen deutlich zu reduzieren, können wir schon bald Millionen Infizierte in Deutschland haben.
Die Lage muss immer wieder neu bewertet und angewandt werden, in Zusammenhang mit anderen Wissenschaften und den Abwägungen der Politik. Die Herausforderung ist den Krisenzustand zu schnell wie möglich zu überwinden, auch stufenweise.

K: Die große Mehrheit der Menschen wird wahrscheinlich nur mit moderaten Symptomen zu leben haben.

R: Nicht nur für einige wird es lebensgefährlich. Es geht um Leben und Tod. Die Infektionsketten müssen durchbrochen werden. Wer sich jetzt schützt, schützt auch alle anderen. Deswegen hat jeder die Verantwortung, mit Vernunft auf diese Herausforderung zu reagieren. Wir haben noch keine Immunantwort. Es ist tatsächlich ein Stresstest für unser Gesundheitssystem, für die Politik, aber auch ein Charaktertest für unsere Gesellschaft. Die Leute, die wir in dieser Krise an erster Stelle brauchen, sind die Virologen. Und die Pharmazeuten, die bitteschön so schnell wie möglich einen Impfstoff und passende Medikamente entwickeln. Die notwendigen politischen Entscheidungen nimmt den Politikern keiner ab. Die Maßnahmen werden schwere Auswirkungen die Ökonomie und das Soziale haben.

K: Wie werden die Auswirkungen nach dem Ende der Pandemie sein?

R: Wenn sich die Geschichte in die Kurve legt, kannst Du nicht geradeaus fahren. Die Welt wird anders aussehen. Die Frage, wie wir miteinander umgehen, wie wir leben, wie vorsichtig wir sind – aber auch die Globalisierung wird in vielen Bereichen hinterfragt werden.
Es wird kein weiter so geben. Weder für die Politik noch für unsere Gesellschaft. Der Coronavirus überlagert derzeit alles. Die Welt wird danach eine andere sein.