Der jugoslawische Fotoreporter Jovan Ritopečki dokumentierte ab den frühen 1970er-Jahren mit tausenden Aufnahmen MigrantInnen aus seinem Heimatland, die in Österreich erwerbstätig waren. Neben Auftragsbildern aus der Arbeitswelt dringt er auch in die prekären Lebensverhältnisse der Arbeitenden vor. Die Wiener Historikerin Vida Bakondy bearbeitet erstmals den umfangreichen Nachlass des 1989 verstorbenen Fotografen.
Die Historikerin Vida Bakondy macht sich im noch bis 2025 laufenden Projekt „Visualisierung migrantischer Lebenswelten“, das vom Wissenschaftsfonds FWF unterstützt wird, zur Aufgabe, das fotografische Werk Ritopečkis aufzuarbeiten und teilweise zu digitalisieren. Erstmals wird im Zuge sogenannter „Visual Culture Studies“ dessen umfangreicher Nachlass bearbeitet, den die Historikerin bei einer seiner Töchter ausfindig machen konnte. „Ein großer Teil der Arbeiten Ritopečkis haben das Arbeitsumfeld von MigrantInnen zum Thema. Gleichzeitig gewähren sie aber auch viele Einblicke in den privaten Raum“, sagt Bakondy. „Er zeigt die Menschen an ihren Schlafstätten oder bei Freizeitaktivitäten. Gerade die Dokumentation der Wohnumstände hat dabei auch eine sozialkritische Dimension.“
Besuch im „Haus des Schreckens“
Eine der Bildserien, die Bakondy bearbeitet, trägt den Titel „Rio Grande – Haus des Schreckens“. Die 30 Bilder, die aus den frühen 70ern stammen, zeigen die Wohnverhältnisse in einer Unterkunft für ArbeiterInnen an der Wiener Peripherie. „Der Name der Serie verweist nicht nur auf den schlechten Zustand der Wohnungen, sondern offenbar auch auf zeitgenössische Produkte aus der Populärkultur wie Comics und Filme mit Namen ,Rio Grande‘“, erläutert die Forscherin. „Gleichzeitig schwingt mit der Nennung des Grenzflusses zwischen den USA und Mexiko – und damit zwischen Reich und Arm, Norden und Süden – auch gleich ein sozialkritischer Unterton mit.“
Sozialkritische Tendenz
Die Recherche Bakondys ergab, dass die Bilder aus der Serie „Haus des Schreckens“ in der jugoslawischen Zeitschrift „Yu Novosti“ veröffentlicht wurden, die sich an jugoslawische ArbeitsmigrantInnen in ganz Westeuropa richtete. Dem begleitenden Text kann man entnehmen, dass in der Unterkunft über 100 Leute unter ausbeuterischen Verhältnissen lebten und Ritopečki, der hier ohne Erlaubnis fotografierte, vom Besitzer unter Morddrohungen verjagt wurde. „Titel, Bildsprache und recherchierte Informationen zeugen von seinem Bedürfnis, die prekären Wohnverhältnisse der jugoslawischen MigrantInnnen zu dokumentieren und anzuklagen“, betont die Historikerin. Ein völlig anderes Bild zeigen hingegen die zahlreichen Fotodokumente von den Arbeitsplätzen der MigrantInnen. Bakondy: „Die Bilder Ritopečkis für die Zeitung ‚Naš list‘, die von der österreichischen Industriellenvereinigung für jugoslawische MigrantInnen herausgegeben wurde, inszenieren die Arbeit in den Fertigungsbetrieben als heile Welt.“
Virtuelle Ausstellung
Der Großteil des digitalisierten Bildbestandes, den die Historikerin bearbeitet, wird für eine Online-Datenbank aufbereitet und im Visual Archive Southeastern Europe (VASE) mit 2025 öffentlich zugänglich gemacht. Dazu arbeitet Bakondy mit dem Zentrum für Informationsmodellierung der Universität Graz zusammen. Auch eine klassische Ausstellung der Bildserien strebt die Historikerin an. Zudem würde sich anbieten, den Vergleich zwischen Ritopečkis Blick auf Migration und jenen der zeitgenössischen österreichischen Pressefotografie auszubauen, betont Bakondy.
Zur Person
Die Historikerin Vida Bakondy ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Balkanforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Bereits in ihrer mehrfach ausgezeichneten Dissertation „Montagen der Vergangenheit. Flucht, Exil und Holocaust in den Fotoalben der Wiener Hakoah-Schwimmerin Fritzi Löwy“, (Wallstein-Verlag 2017) beschäftigte sie sich mit Visual Culture Studies, Fotografie und der historisch-kulturwissenschaftlichen Analyse privater Nachlässe. Am Schnittpunkt dieser Forschungsbereiche ist auch das Projekt „Visualisierung migrantischer Lebenswelten“ angesiedelt, das im Rahmen des Hertha-Firnberg-Programms des Wissenschaftsfonds FWF mit 239.000 Euro gefördert wird.
Publikationen
Bakondy, Vida et al.: Fotoalben als Quellen der Zeitgeschichte, in: zeitgeschichte, 49/2, V&R unipress 2022
Bakondy V., Tropper E.: Fotoalben beforschen. Voraussetzungen, Impulse, Methoden eines interdisziplinären Forschungsfeldes, in: zeitgeschichte, 49/2, 2022
Forthcoming: An Album for Tito. Belonging, Transnational Unity, and Social Critique in a Photo Album by the Yugoslav worker’s club Jedinstvo Vienna, in: Ethnologia Balkanica. Special Issue of Contemporary Southeastern Europe (CSE), edited by Elife Krasniqi and Robert Pichler, Vol. 24/2024
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