Alterswerk? Der Begriff steht so unbeholfen wie der eine Stuhl zu viel im Raum, der nicht mehr an die Tafel passt. Es ist nichts falsch an ihm, aber alles Rücken hilft nicht, er passt einfach nicht. Natürlich, wenn Reinhard Mey uns einige Monate nach seinem 81. Geburtstag mit Nach Haus sein inzwischen 29. Album zum Zuhören anbietet (sein insgesamt sogar bereits 60. – inklusive aller gerade bei ihm so wichtigen Live-Alben und einem ganzen Dutzend fremdsprachiger Produktionen), dann scheint es nicht abwegig, ihn mit an die Tafel der Beschreibungen für das neue Werk stellen zu wollen.
Er passt bestenfalls in dem Sinne, dass man, um einige Themen so zu reflektieren um ihrer in einer Weise habhaft zu werden, dass ein Lied daraus entstehen kann, was nicht intellektuell erzwungen klingt, sondern eben wirklich gelebt, dass man dafür offenbar schon sehr lange Jahre Erfahrungen gesammelt haben muss. Aber sonst?
Modetrends haben ihn sowieso nie interessiert und sein seit schon mehr als ein halbes Jahrhundert anhaltender außergewöhnlicher Erfolg und die immerfort wachsende Anerkennung so vieler Menschen ihm gegenüber, begründen sich gewiss nicht darin, dass er jemals musikalisch dem Zeitgeist der jeweiligen Popmusik nachgeeifert hätte. Ein Schubfach, in das seine Musik hineinpasst, gibt es nicht und wenn doch, dann steht sein Name drauf und andere, die nach ihm kamen, müssen Acht darauf geben, darin nicht versenkt und nicht wiedergefunden zu werden.
Natürlich kann man ihn kopieren, aber dann klingt man eben auch nur wie eine Kopie. Vermutlich ist es diese musikalische Einzigartigkeit gepaart mit menschlicher Aufrichtigkeit, die ihn für so viele Menschen über mittlerweile mindestens vier Generationen zum Weggefährten ihres Lebens hat werden lassen und eben nicht zum Musiker von dem man eine Zeit lang Fan ist.
Der warme, ehrliche Klang wahrhaftiger Instrumente und die erzählerischen Liedstrukturen mit doppelter Länge, um in der Rotationsradiobeschallung Verwendung zu finden, sind jedenfalls kein Indiz für ein Alterswerk-Album.
Nach Haus ist im Grunde das 29. Kapitel eines langen Buches, an dem Mey seit seiner ersten Platte schreibt. Ein ganz außergewöhnlich starkes Kapitel.
Da sind die kleinen und größeren Erlebnisse und Begebenheiten am Wegesrand, die niemand so lyrisch, so musikalisch oder so unterhaltsam zu Liedern werden lassen kann und da ist auch wieder das kleine, große Liebeslied, dass jeweils unter strikter Vermeidung von Kitsch und Phrasen von Album zu Album zu einem immer noch intensiver werdenden seiner Art gelingt. Diesmal heißt es „Du hast mich getragen” und entfaltet in seiner Zurückgenommenheit unendlich mehr Kraft als es eine Power-Pop-Ballade jemals könnte.
Aber mehr als bei den letzten Kapiteln, um im Bild zu bleiben, mehr als auf den Alben der letzten zehn Jahre, ist Reinhard Mey auf Nach Haus auch wieder Chronist unseres Landes. In „Zwischen Kontrollpunkt Drewitz und der Brücke von Dreilinden” erzählt Mey 33 Jahre deutsche Geschichte seit dem Mauerfall im Detail, zeigt die Brüche und die Risse, die geblieben sind, die neu entstanden, aber beweist auch, dass er ihre Ursachen versteht, wirklich menschlich versteht – und deutet, ohne mit dem moralischen Zeigefinger zu fuchteln, in Richtung Zuversicht.
Der kritische Beobachter der Mächtigen, den man auf den Alben der letzten zehn Jahre eher zwischen den Zeilen suchen musste (und finden konnte!), ist auf Nach Haus nun aber feinsinnig und wortkräftig, unüberhörbar und ganz und gar nicht subtil zurück.
Ein Reinhard Mey Album ist eben immer die Sammlung seines Denkens und Fühlens, des Erlebten und Erfahrenen der Jahre seit dem Album davor. Die letzten Jahre haben an Erschütterungen und Irritationen, an gründlichen Entgleisungen und irrlichterndem Unsinn einfach zu viel geboten, als das nicht einiges davon einfach zu Liedern werden musste. Klug, kritisch, unmissverständlich, aber immer menschlich! „Lagebericht” sollte vielleicht die Flure des Bundestags beschallen, bis sich die Vertreter aller Fraktionen vielleicht an einige elementare Dinge zum Gelingen einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft zum Wohle aller Menschen wieder erinnern. In Redaktionsräumen klänge das Stück wohl auch vorzüglich!
Dem überdröhnten Kriegsgeschrei der jüngsten Zeit, in dem allzu oft ein hysterischer Unterton mitschwingt, der manchmal beinahe so klingt, als sei allein der artikulierte (ja, vielleicht manchmal naive) Wunsch nach Versöhnung das eigentliche Böse, setzt Mey mit „Verschollen” die Gedanken eines schon jenseitigen gefallenen, von Granatsplittern zerfetzten Soldaten entgegen.
Hannes Wader ist auf Nach Haus zu Besuch, ein Lied von Konstantin Wecker und ein englischer Song von Ross Brown und Mike Silver werden wundervoll bearbeitet und es gibt endlich eine „Zusammenarbeit” mit Georg Friedrich Händel.
Außerdem greift Mey ein altes musikalisches Thema, Teile seines bald 30 Jahre alten Liedes „Lilienthals Traum” als Selbstzitat noch einmal auf und wandelt es in das neue, sich selbst betrachtende „Du kannst fliegen”, wie damals mit großem Orchester aufgenommen. Ja, man kann es nicht anders sagen, mit Nach Haus ist Reinhard Mey ein ganz besonderes Kapitel in seiner musikalischen Biographie gelungen.
Der Gedanke, ob dies nun sein letztes Album sein könnte, steht ähnliche lose, unbeholfen in der Gegend, wie der oben erwähnte Stuhl namens Alterswerk neben der Tafel, denn es gibt auf Nach Haus auch einen Hinweis auf Meys eigenen 100. Geburtstag. Bis dahin wird er selbst bei einem Intervall von vier Jahren seinem Werk noch einiges hinzufügen.
Nach Haus ist nicht der Epilog, sondern ein weiteres, überaus spannendes, lebensvolles Kapitel eines großartigen Buches: seines Lebens.
Autor: Christian Günther