Waldemar Ritter: Wir Europäer

Willy Brandt und Waldemar Ritter legten vor genau 50 Jahren in Aachen den „Europagrundstein des Friedens“.

Aber: „Europa“ ist von Anfang an nicht nur ein geographischer Begriff. Europa ist vor allem ein kultureller Kontinent.

Die identitätsstiftende kulturelle Grundlage Europas ist die Synthese aus antiker  griechischer Philosophie, Wissenschaft und Demokratie, dem römischen Rechts- und Staatsgedanken, dem Christentum, germanischer Verfassungen und die der Aufklärung. Die Mäßigung und Begrenzung jeder Gewalt durch Rechtsregeln. Die Gewaltenteilung und die Trennung von Kirche und Staat „Gebe Gott, was Gottes ist, gebe dem Kaiser, was des Kaisers  ist“.

Seit dem Humanismus (Der Mensch als Maß aller Dinge), der Renaissance und der Aufklärung ist es die Wiederbelebung des Rationalitätsverständnisses und der Anspruch auf  individuelle Grund und Persönlichkeitsrechte, die der Staat nicht zu gewähren oder zu verweigern, sondern zu schützen hat, untermauert mit dem christlichen Verständnis der individuellen Gewissensfreiheit und Das: vor Gott sind alle Menschen gleich.

Hinzu kommt die Bindung der Staaten in einem ausbalancierten Völkerrechtssystem.

Gemeinsamkeit an Gesellschaftsstruktur, Produktionsweise und materieller Lebenssicherung, an handwerklichen, technischen und wissenschaftlichen Grundlagen. Gemeinsamer Canon von Verhaltensweisen, Standards und Organisationsformen, Leistungsbereitschaft

Europa in seinen heutigen Grenzen ist ein historisch  gewachsenes hohes Sein und Sollen, ein ständiger Dialog, stetigem Wandel unterworfen und eng mit der politischen Entwicklung verzahnt. Am Anfang Europas steht jene Gesellschaft, die rationale Wissenschaft erst möglich gemacht hat. Das altgriechische Wort Europa heißt weithin blickend.

So ähnlich steht es in  einem Katalog, einer großen Europaausstellung, die ich zwei Jahre nach dem Mauerfall in der Vertretung der Hohen Kommission Europas in Bonn eröffnet habe. Damals sagte ich: „Es ist das Ziel einen Kontinent zu schaffen, zu erhalten und zu befördern auf dem Frieden, Demokratie, Freiheit und Verantwortung und keine Libertinage oder unbegrenzter Wertepluralismus bestehen sollen. In dem Gleichberechtigung der Menschen und Völker und ihr soziales und wirtschaftliches Wohlergehen verwirklicht werden, auf dem die Menschenrechte und die Menschenwürde unantastbar sind, auf dem die vielfältige europäische Kultur das Fundament unseres Handelns ist.“

Alle Europäer verbindet das auf gemeinsamen Traditionen und Werten aufbauende Bewusstsein dieser Kulturwelt ganz anzugehören. Europa war vor seiner politischen Einheit im Geiste seiner Kultur schon lange eins nicht nur in der klassischen Philosophie, in der Gemeinschaft des römischen Rechts, im Christlich-jüdischen Erbe, sondern ebenso in der Musik und Architektur, sowie in den Künsten, in der Aufklärung schließlich in einer Gelehrten Republik, welche die Gebildeten von Athen, Rom bis Aachen, Edinburgh bis St. Petersburg, von Stockholm über Riga und Königsberg bis Krakau, von Weimar bis Neapel, von Toledo über Paris bis nach Kiew verband. Vergessen wir nicht auch, dass in den Jahren der deutschen und europäischen Teilung Kunst und Kultur- trotz gegensätzlicher Entwicklungen die Grundlage des fortbestehenden kulturellen Fundaments waren. Wie „fortschrittlich“ Kultur ist zeigt sich auch bei der Einigung Europas. Während das politische und wirtschaftliche Zusammenwachsen immer wieder Schwierigkeiten und manchmal sogar Gräben offenbart, gibt und gab es in der kulturellen Einheit in der europäischen Geistesgeschichte nie Zweifel: Galilei, Kepler und Kopernikus veränderten unser Weltbild, wie in anderer Weise Leonardo Da Vinci, Johannes Gutenberg oder Albert Einstein. Gotik und Romanik gab es nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa bis zur Backsteingotik im gesamten Ostseeraum. Latein reicht bis in den hohen Norden und Osten, dorthin, wo die Römer nie gewesen sind. Die Renaissance strahlte von Italien über den gesamten Kontinent ebenso wie der Glanz des barocken Sonnenkönigs. Shakespeare begeisterte die deutschen Stürmer und Dränger, und die deutsche Nachkriegsliteratur wäre ohne den französischen und skandinavischen Existentialismus kaum denkbar. Europa war und ist ein beförderndes Geben und Nehmen, ein stufenweises entwickeln über alle seine Grenzen hinweg und ein Wissen über die gemeinsamen antiken Wurzeln. Wir haben das nach der Wiedervereinigung Deutschlands als Postulat an unsere Gesellschaft formuliert, die die europäische Einigung nicht  als Technik des Zusammenlebens versteht, sondern die Europa als Teil ihrer politischen und kulturellen Identität  empfindet und bereit ist diese zu bewahren, zu stärken und verbessern.

Alle Europäer können nach 2.400 Jahren in die Platonische Akademie eintreten. Dort entwickelte

Aristoteles vom ersten Moment an in radikaler Opposition zu seinem Lehrer Platon sein Denken – auch mit dem Studium der Tiere und Pflanzen in der Natur und nicht nur im Lesesaal. Ein Akt, der Platon begeisterte, obwohl er allem widersprach, was er selbst lehrte.

Über eineinhalbtausend Jahre später beschwört Dante Alighieri, der angesichts des allmählichen Auseinanderbrechens der inneren Einheit und der Bildung souveräner Territorialstaaten in seinem Epitaph „de monarchia“ zum mittelalterlichen Kaisertum noch einmal die Idee der Einheit und Universalität in der Gestalt des Kaisers als Garanten eines übergreifenden Friedens in Europa. Oder Abbé de Saint Pierre mit seinem „Traktat vom ewigen Frieden 1713, der den Plan eines vertraglich fixierten Staatenbundes mit der Notwendigkeit begründet, den Frieden zu sichern und das Gleichgewicht zu erhalten. Dabei setzt er auf die Einsicht, dass die Mitgliedschaft jedem beteiligten Staat Vorteile bringt, die ihm die Selbstverpflichtung erleichtert.

Vor allem Immanuel Kant in seiner philosophischen Schrift „Über den ewigen Frieden“, in dem er in Form eines Friedensvertrages einen an den Prinzipien von Freiheit, Vernunft und Recht orientierten Plan zur dauerhaften Organisation Europas, zum Zweck der Friedenssicherung entwirft: So unterschiedlich diese und viele andere Pläne auch sind, alle gehen davon aus, dass Frieden die Bindung durch einen föderativen Zusammenschluss notwendig macht.

Heute erinnern wir uns an den Ausbruch des ersten Weltkrieges, mit dem vor hundert Jahren die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts begann, die vor 25 Jahren mit dem Ende des kalten Krieges, mit der friedlichen Revolution in Mittelosteuropa, mit dem Mauerfall im Jahre 1989 endete.

Wer an den ersten Weltkrieg erinnert, muss über dessen Folgen sprechen! heißt es in einem Manifest für eine Europäische Erinnerungskultur.

Wer über 1914 und den ersten Weltkrieg spricht, der muss sich bewusst sein, dass dieser Krieg Entwicklungen in Gang setzte, die in einem Zeitalter der Extreme kulminierten, das für Ostmitteleuropa erst 1989 endete.

Wir blicken also nicht nur  auf den ersten Weltkrieg zurück. 75 Jahre werden seit dem Beginn des von Nazideutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges vergangen sein. Ebenso 75 Jahre des Hitler Stalin Paktes, der erst 1989 von der Sowjetunion für nichtig erklärt wurde. 25 Jahre seit den friedlichen Revolutionen gegen die kommunistischen Diktaturen, zu denen auch die DDR gehörte, und zehn Jahre nach der Erweiterung der europäischen Union um acht mittelosteuropäische Staaten. Demokratie, Freiheit und Völkerverständigung, die nach 1945 in Westeuropa Schritt für Schritt Allgemeingut wurden, blieben der DDR und Ostmitteleuropa vier weitere Jahrzehnte verwehrt. Allerdings gab es auch und gerade östlich des Eisernen Vorhangs  eine große europäische Freiheitsgeschichte, für die die Jahre 1953, 1956, 1968, 1970 und 1980/81 stehen und die 1989 schließlich zum Sieg der Freiheit und Demokratie in ganz Europa führte. Europa hat die schreckliche Vergangenheit des Nationalsozialismus, des Faschismus und des Kommunismus überwunden. Auch die  Revolution der Demokratiebewegung des vergangenen Jahres auf dem Maidan und des ukrainische Volkes  hat ein unübersehbares Zeichen der Freiheit und Würde und für Europa gesetzt. Zu den Architekten der europäischen Einigung  zählen nicht nur westliche Politiker wie Schumann, Monnet, Adenauer, de Gasperi, Spaak oder Brandt, sondern ebenso Ostmitteleuropäer, wie Vaclaw Havel, Tadeusz Mazowiecki oder Bronislaw Geremek.

Nicht nur unsere Geistes- und Kulturgeschichten, sind mit unseren jeweiligen nationalen Geschichten eng verflochten. Ein alles überstrahlender Stellenwert kommt dabei der friedlichen Revolution, dem Jahr 1989 zu, das mit Blick auf die europäische Freiheits- und Demokratiegeschichte  in einem Atemzug mit der französischen Revolution von 1789 zu nennen ist.

Die Kraft, die Dynamik und der Erfolg Europas zeigen sich ebenso in seiner Ökonomie. Die Europäische Union mit heute 28 Mitgliedstaaten und einer halben Milliarde Einwohner ist durch den Europäischen Binnenmarkt der inzwischen größte Markt der Welt. Hier hat ein Grundsatz zu gelten. Die europäische soziale Marktwirtschaft hat den Menschen zu dienen und nicht umgekehrt.

Und gerade wegen der politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen aus anderen Kontinenten muss Europa seine Wirtschaftskraft stärken und seine gegenwärtige Krise überwinden. Sonst können wir uns nicht gegen russisches Hegemonialstreben, islamistische Bedrohung und einen völlig ungezügelten Kapitalismus behaupten

Doch wir müssen auch eines nüchtern feststellen. Für viele Bürger hat Europa an Strahlkraft und Bindewirkung verloren, wo das Europa als Idee und Wille zu verblassen droht. Das liegt einmal an einem Politik-Verständnis vieler Bürger, das für Kompromisse nichts übrig hat, zum anderen auch an den Europa-Profis selbst, die nur Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zustande bringen. Das liegt aber auch an dem Mangel an Transparenz, mit dem unsere Politiker bisher mit der Eurokrise umgegangen sind. Die Bürger haben ein Recht darauf, die Realitäten zu erfahren und auch welche Lasten auf sie zu kommen. Das ist mit PR-Kampagnen und beschwörenden Appellen voller Allgemeinplätze nicht getan. Wir müssen die europäischen Ideale konsequent zu neuem Leben in der Realität von heute erwecken und wir müssen die europäischen Traditionen weiter entwickeln. Konkret heißt das Investitionen und Reformen. Da hilft  kein Wettstreit, immer neuer, lange nicht realisierbarer Utopien, sondern da helfen nur Leuchttürme und Taten, die zeigen; Es geht voran mit der Einigung. Europa lebt in der Aktion!

Ein erster Schritt war, dass die Bürger durch das europäische Parlament ihren Kommissionspräsidenten selbst bestimmten, über die Hinterzimmer-Politik der Regierungen hinweg. Das war ein rühmenswerter demokratischer Staatsstreich. Und es ist gut, wenn wir jetzt Politiker an der Spitze der Institutionen bekommen, die mehr Profil haben als einige der eher blassen Figuren der letzten Jahre: Kompetenz und Erfahrung!

Europa ist kein statisches Gebilde. Heute geht es um Erneuern, Vertiefen, Verändern für ein besseres Europa auch in seiner subsidiären Handlungsfähigkeit (Regionen, Staaten, Europa). Die Zukunft Europas  ist weder „Säkulare Republik Europa“, noch „Christliches Abendland“ oder „Reich der Beliebigkeit.“ Die Zukunft Europas  liegt in unseren Wurzeln, in unser gemeinsamen europäischen Geschichte, in der Vielfalt  unserer Kultur, in einer noch längst nicht vollendeten Aufklärung und vor allem in uns Europäern selbst. Dazu gehört, dass eine unabhängige, freie und  kritische Öffentlichkeit es nationalen Regierungen und Politikern nicht durchgehen lassen sollte ihre europapolitisch eigenen unpopulären Entscheidungen, Fehler und Versäumnisse  Europa oder der Europäischen Union anzulasten. „Don`t shoot the messenger“, lautet ein englisches Sprichwort. Wem die Botschaft nicht gefällt, der muss sich mit der Quelle streiten, nicht mit dem Überbringer. Es sind seltsame Europakritiker, die gerne übersehen, dass nichts Wesentliches ohne die Entscheidung der nationalen Präsidenten und Regierungschefs der einzelnen Staaten in  Europa geschieht, und dass nichts ohne Zustimmung Deutschlands und Frankreichs entschieden wird.

Es geht, wie der Historiker August Winkler richtig sagt, um eine „glaubwürdige Legitimierung der europäischen Politik durch die Europäer“. Besonders in der Pflicht für das Entstehen des „Wir-Gefühls“ sehe ich mit ihm neben Parlamenten und Regierungen aber die Zivilgesellschaften, namentlich die Intellektuellen. Mehr kühlen Kopf, mehr Begeisterung und Begreifen des Zeithorizonts. Nur so lasse sich Willy Brandts „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“ von 1989, schon damals europäisch gemeint, auf Europa als Ganzes übertragen.

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