Minderheit als Mehrwert

Belgiens Premierminister Elio Di Rupo (links) war Ehrengast des Festaktes zum Jubiläum der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Eupen; die Konversation mit DG-Ministerpräsident Karl-Heinz Lambertz funktioniert nur auf Französisch (© David Hagemann)

Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens feiert Doppeljubiläum ihrer Autonomie – Belgiens Premierminister Di Rupo Gast bei Festakt in Eupe

Während die Europawahlen vor der Tür stehen und sich gefühlt fast alles um die Stabilität des Euro dreht, ringt die kleine Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens (kurz DG) unermüdlich um weitere Zuständigkeiten ihrer Autonomie in unserem Nachbarland. Gerade deshalb aber, ist man – nur rund eine Stunde von der Rheinschiene und wenige Minuten von Aachen entfernt – stolz auf das bisher erreichte im komplexen Staatsgefüge Belgiens. Vor 40 Jahren begann das zarte Pflänzchen Autonomie zu gedeihen, den ersten Höhepunkt erlebte die DG vor 30 Jahren, als sie die erste Regierung wählen konnte und somit über eine eigene Gesetzgebungshoheit verfügte. Ein Festakt im Europasaal des Ministeriums der DG in Eupen würdigte diesen Meilenstein. Zu Gast war auch der frankophone belgische Premierminister Elio Di Rupo.

Um den Stellenwert der Autonomie für die kleine deutschsprachige Minderheit zu verstehen, muss man stark vereinfacht wissen: Belgien ist multinational und regional strukturiert – ein fragiles Gebilde, in dem sich die Volksgruppen bekanntermaßen längst nicht immer einig sind. Es gibt drei territoriale Gemeinschaften, die französische (knapp 4 Mio. Angehörige), die flämische (fast 6 Mio.) und die deutschsprachige (rund 75.000).

Dazu kommen drei Regionen: Flandern, die Wallonie und die zweisprachige Region Brüssel. Die DG ist Grenzregion, Minderheit und Teilgebiet; sie ist keine eigenständige Region, sondern ein Gliedstaat Belgiens (der Wallonie).  Amts-, Schul- und Gerichtssprache ist Deutsch. Sie liegt im Osten Belgiens auf einer Fläche von 854 km² – an den Grenzen zu Deutschland, den Niederlanden und Luxemburg.

Die Ostbelgier leben also am Schnittpunkt zweier Kulturen: der germanischen und der romanischen. Von sich selbst sagen sie: „Wir arbeiten preußisch und leben französisch“. Soviel zum Selbstbewusstsein der Menschen, denen die deutsche Sprache Identität stiftet und als kulturelles Gut und Erbe besonders wichtig ist.

Belgien zu viert?

Einige Strukturen der DG sind mit denen eines Bundeslandes hierzulande in etwa vergleichbar, doch von den bundesdeutschen Länderkompetenzen ist man noch ein gutes Stück entfernt.  Als Gemeinschaft mit Gesetzgebungshoheit verfügt die DG über eine weitreichende Autonomie mit einem Parlament, einer Regierung und einer Verwaltung. Sie ist im Wesentlichen zuständig für Kultur, Bildung, Ausbildung und Beschäftigung, Familie und Soziales und die Aufsicht über die lokalen Behörden.  DG-Ministerpräsident Karl-Heinz Lambertz, der die Regierung seit 1999 tatkräftig anführt, nutze in seiner Festrede die Gelegenheit, Belgiens Premierminister Di Rupo auf weitere Wünsche für die Zukunft hinzuweisen:  „Über regionale Kompetenzen hinaus müssen wir uns gründlich mit der vorhersehbaren Weiterentwicklung des belgischen Föderalismusmodells auseinandersetzen.

In Sachen Autonomie für die DG ein unermüdlicher Kämpfer: Ministerpräsident Karl-Heinz Lambertz (© Frank Fäller)

Umso mehr, als wir nicht die Architekten dieses Modells sind und als Minderheit in Belgien auf dessen Gestaltung keinen relevanten Einfluss ausüben (können)“, betonte Lambertz. „Die Ebene mit ihren Gemeinschaften und Regionen verliert immer mehr an Bedeutung und mache schrittweise einem Modell Platz, in dem die Regionen die zentrale Rolle spielen. Die DG muss in der Lage sein, mit angemessenen Finanzmitteln oder Finanzierungsmöglichkeiten alle Zuständigkeiten wahrzunehmen, die den belgischen Gliedstaaten bisher übertragen wurden oder in Zukunft übertragen werden.“  Ein Bundesstaatsmodell mit den vier Gliedstaaten Flandern, Wallonien, Brüssel und Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens liegt in der logischen Kontinuität der bisherigen Entwicklung und entspreche ohne Zweifel den vier institutionellen Realitäten, ist der Ministerpräsident der kleinsten Region mit Gesetzgebungsbefugnis in der EU  überzeugt: „Wir wünschen uns ein Belgien zu viert“.

Premierminister Di Rupo war diplomatisch genug, um es sich nicht mit den Mehrheiten in seinem Land zu verscherzen. Er wolle sich nicht in die Verhandlungen zwischen der DG und der Wallonischen Region einmischen. Die DG, so Di Rupo in seiner Rede, habe sich bisher ja auch immer vorsichtig bei Diskussionen zwischen Flamen und Wallonen gezeigt, sagte der Ehrengast.

Small is beautiful

Seit 25 Jahren  hat die DG einen eigenen Gerichtsbezirk deutscher Sprache. Ebenfalls eine wichtige und unverzichtbare Errungenschaft der Autonomie, wie im „Europäischen Journal für Minderheitenfragen“ festgestellt wird, das anlässlich der Feierlichkeiten mit Forschungsaufsätzen auf die Situation in Belgien blickt. Eine Konferenz mit dem schönen Titel „small is beautiful“ gab Einblicke über den Forschungsstand von Minderheiten und Kleinstaaten wie Ostbelgier, Südtiroler oder Liechtensteiner. Deren Bevölkerungszahl ist mit rund 37.000 nur halb so groß wie die der Ostbelgier, die Hälfte davon sind berufstätige Pendler.

Wie nicht anders zu erwarten, bestehe in der Forschung noch Nachholbedarf, waren sich die Redner aus Bozen, Vaduz, Straßburg, Lüttich und Eupen einig. So gibt es nur in Straßburg mit Dr. Birte Wassenberg, als Dozentin am „Institut des Hautes Etudes européennes” in Straßburg, ein Fachgebiet zur Erforschung der deutsch-französischen Grenzregion. Der Trend zur Regionalisierung oder noch moderner „Glokalisierung“ (Wortschöpfung aus Globalisierung und Lokalisierung) sei jedoch unverkennbar und biete Chancen. Auffällig sei, dass z.B. die Grenzregionen in Europa aus ökonomischer Sicht vergleichsweisen gut aufgestellt seien.

Sie könnten von ihren Alleinstellungsmerkmalen einer Minderheit häufig profitieren, zum Beispiel beim Tourismus. Ostbelgien etwa ist auch jenseits seiner Grenzen beliebtes Ausflugs-und Einkaufsziel. So tragen die „Kleinen“ neben der kulturellen Bereicherung außerdem auch wirtschaftlich ihren Teil zum großen Ganzen eines Staates ohne Diskriminierung bei. Eine echte „win-win-Situation“ oder anders gesagt: Minderheit als Mehrwert.

Frank Fäller

„Small is beautiful“, so lautete der selbstbewusste Titel einer Tagung mit Fachvorträgen zum Thema Alleinstellungsmerkmale für Grenzregionen und Minderheiten in der EU (© Frank Fäller)

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