Frankfurt/Main. „Plastic World“ ist die kommende Ausstellung überschrieben, die die Schirn vom 22. Juni bis zum 1. Oktober präsentiert. Das Thema behandelt die Materialgeschichte und Ästhetik von Plastik in der Bildenden Kunst.
Symbol der Massenkultur
Plastik ist überall: Es durchdringt die Gegenwart, ist billig, nahezu weltweit verfügbar und im Alltag omnipräsent. In den 1950er-Jahren wurden synthetische Stoffe zum Symptom und Symbol der Massenkultur – das „Plastic Age“ war geboren. Und auch in die Kunst fanden Kunststoffe aufgrund ihrer immensen gestalterischen Möglichkeiten früh Einzug und wurden schnell zu einem zentralen Material. Die Ausstellung „Plastic World“ eröffnet das breite Panorama der künstlerischen Verwendung und Bewertung des Materials von den 1960er-Jahren bis heute. Das Spektrum reicht von der Euphorie der Popkultur über den futuristischen Einfluss des Space Age und die Trash-Arbeiten des Nouveau Réalisme bis zu ökokritischen Positionen der jüngsten Zeit; es umfasst Architekturutopien ebenso wie Experimente mit Materialeigenschaften. Objekte, Assemblagen, Installationen, Filme und Dokumentationen zeigen die Vielfalt der Stoffe, Formen und Materialien und spiegeln dabei auch den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext.
Bedrohung für die Umwelt
„Plastic World“ versammelt rund 100 Werke von über 50 internationalen Künstlerinnen und Künstlern, die auf unterschiedlichste Weise mit Kunststoff arbeiten, darunter Monira Al Qadiri, Archigram, Arman, César, Christo, Haus-Rucker-Co, Eva Hesse, Hans Hollein, Craig Kauffman, Kiki Kogelnik, Gino Marotta, James Rosenquist, Pascale Marthine Tayou und Pınar Yoldaş. Die Ausstellung macht deutlich, wie sich der erfolgreiche vielseitige Werkstoff Plastik in seiner kurzen Geschichte vom Inbegriff für Fortschritt, Modernität, utopischen Geist und Demokratisierung des Konsums zu einer Bedrohung für die Umwelt wandelte.
Besondere Dringlichkeit
Sebastian Baden, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt: „Mit ‚Plastic World‘ präsentiert die Schirn einen bislang einmaligen und längst überfälligen Überblick über die Verwendung synthetischer Stoffe in der bildenden Kunst. Schnell eroberte das vielseitige Material in Skulpturen und in der Architektur den dreidimensionalen, physischen Raum. Diese Geschichte des Plastikzeitalters zeugt von Innovationsfreude und Kreativität. Aus ökologischer Perspektive entfaltet Plastik aktuell eine besondere Dringlichkeit, es ist bis heute allgegenwärtig in der Massenkultur.“ Kuratorin Martina Weinhart erläutert: „Plastik ist das emblematische Material unserer Gegenwart und hat in kürzester Zeit Kunst und Gesellschaft radikal verändert. Was sich inzwischen als enorme Belastung für die Umwelt herausgestellt hat, bedeutete für die Kunst, wie für Architektur und Design, eine ebensolche Bereicherung. Der Blick auf die überaus reiche Materialgeschichte von Plastik eröffnet eine Erzählung voller Ambivalenzen: von zukunftsorientierter Innovationskraft und verführerisch anmutigen Objekten; von den schädlichen Auswirkungen, aber auch zur Frage nach neuen Wegen im Umgang mit diesem Material, das gekommen ist, um zu bleiben.“
Ikonisches Material der Pop-Art
Plastik wird in den 1960er-Jahren zum ikonischen Material der Pop Art und ist in Kunst und Design gleichermaßen beliebt. Fasziniert von der Konsumkultur und den Dingen des täglichen Lebens, baute etwa Claes Oldenburg Waschbecken, Eisbeutel oder Lichtschalter aus Vinyl. James Rosenquist, der als Maler von Werbeplakaten begonnen hatte, nutzte für seine raumgreifenden Motive wie „Forest Ranger“ (1967) einen reißfesten Polyesterfilm, der im Raum schwebend platziert gleichsam die Malerei erweitert. Omnipräsent ist in der männlich dominierten Kunstwelt dieser Zeit auch der Blick auf den weiblichen Körper, den Künstlerinnen wie Nicola L. oder Kiki Kogelnik konterkarierten. Für ihre Cut-Outs wie „Man with Ingredients“ (um 1970) schnitt Kogelnik die Konturen ihrer männlichen Künstlerkollegen aus, die ihr am Boden liegend dafür als Modelle dienten. Mit der sprunghaften Verbreitung industrieller Werkstoffe erkundeten Künstlerinnen und Künstler im Umfeld der italienischen Arte Povera wie Gino Marotta in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre das Verhältnis von Natur und Künstlichkeit und unterliefen traditionelle Konzepte mimetischer Naturdarstellung. Auch der deutsche Künstler Otto Piene und ZERO-Gründer verband moderne Technik und Natur. In einem begehbaren Environment von rund 160 Quadratmetern präsentiert die Schirn eine Neuauflage von „Anemones: An Air Aquarium“ (1976/2023). Zehn riesige, bis zu acht Meter große, aufblasbare und durchsichtige Seeanemonen sowie andere Seewesen machen Unterwasserwelten erlebbar.
Mondlandung
Die zu ihrer Entstehungszeit poetische und spielerische Dimension der Arbeit wird heute durch das Wissen um die Verschmutzung der Meere durch (Mikro)plastik überlagert. Weltraumforschung, Raumfahrttechnologie und nicht zuletzt die Mondlandung selbst hinterließen einen tiefen Eindruck in der Popkultur, dem Design und dem utopischen Geist der 1960er-Jahre. Das künstlerische Schaffen und die experimentellen Architekturen des „Space Age“ sind bestimmt von Schwerelosigkeit, Mobilität, Flexibilität und nicht zuletzt dem Arbeiten im Kollektiv. Bei visionären Modellen wie der Klimakapsel Air Hab (1966) von Archigram geht es um die Idee, nicht um die Ausführung. Die assoziativen Bildmontagen mit einer gewisse Nähe zur Pop Art wie etwa „Instant City, Glamour“ (1969), publizierte die britische Gruppe ab 1961 im Magazin Archigram.
Experimentierfreude
Die vielseitigen Form- und Gestaltungsmöglichkeiten der stetig wachsenden Familie der Kunststoffe regten Künstlerinnen und Künstler seit Mitte der 1960er-Jahre zu einer enormen Experimentierfreude an. Der französische Bildhauer César etwa realisierte Happenings mit Polyurethanschaum, den er fassweise über den Boden laufen und ein Eigenleben entwickeln ließ. In ihrer Bereitschaft, gänzlich neue Wege zu gehen, verlieh Eva Hesse ihren Arbeiten wie etwa Sans II (1968) durch innovative Arbeitsmethoden und Materialien wie Glasfaser und Polyesterharz einen fragilen und ephemeren Charakter.
Künstlicher Baum
Im Außenraum präsentiert die Schirn eine monumentale Installation von Pascale Marthine Tayou. Der in Belgien lebende Künstler aus dem Kamerun verwendet in seinen Arbeiten u. a. Plastikeimer, die in L’arbre à palabres (2012/2023) die Krone eines verstörend schönen künstlichen Baumes formen. Seine Arbeit verweist plakativ auf den üblichen massenhaften Gebrauch des günstigen Materials (nicht nur) in Afrika und liefert zugleich einen Kommentar über den Zustand unserer Ökosysteme. pk