Bergisch Gladbach. Die in Berlin lebende Künstlerin Jenny Michel breitet im Kunstmuseum Villa Zanders ein Universum aus, in das man als Betrachterin oder Betrachter voller Neugierde und Wissbegierde eintaucht. Die empfehlenswerte Ausstellung „Soft Ruins“ ist bis zum 10. November in Bergisch Gladbach zu sehen.
Doppelpremiere
Die Villa Zanders erlebt mit der Ausstellung „Soft Ruins“ eine Doppelpremiere: Für die 1975 in Worms geborene Künstlerin Jenny Michel ist „Soft Ruins“ ihre erste Soloschau in Nordrhein-Westfalen. Davor hatte sie u.a. Ausstellungsbeteiligungen im Kunstmuseum Reutlingen, Kasseler Kunstverein, Kunstverein Augsburg. Gleichzeitig ist „Soft Ruins“ die Debütausstellung für die neue Leiterin des Museums, Ina Dinter, zugleich Kuratorin der Schau.
Verweis auf Walter Benjamin
Die Ausstellung umfasst Werke und Werkgruppen der letzten zehn Jahre, darunter die „Paradise Vehicles“, die wie Schiffswracke oder Technikruinen im Ausstellungsraum gestrandet sind. Die Arbeit besteht aus Vehikeln, wie Schiffe auf einem Schiffsfriedhof. „Paradise Vehicels ist liegengeblieben auf dem Weg ins Paradies“, urteilt Jenny Michel über ihre Arbeit und verweist auf einen Absatz bei Walter Benjamin über den „Engel der Geschichte“, der den Rücken zum Paradies gewandt hat und der Vergangenheit entgegenblickt. Er sieht einen Trümmerberg von Katastrophen vor sich auftürmen. Aber es gibt einen Wind vom Paradies, der ihn immer weiter zum Paradies treibt, und den Walter Benjamin „als Fortschritt“ beschreibt. „Ausgehend von diesem Text begann ich meine Arbeit zum Thema Müll, eine erste Idee war dabei, diesen Trümmerberg aufzuzeigen. Das könnte natürlich auch ein Trümmerberg von wissenschaftlichen Entdeckungen und Konventionen sein. Zerbrochene, liegengebliebene Modelle wissenschaftlicher Entdeckungen, die durch die Last der Komplexität ihrer eigenen Konzepte erstickt sind.“
Eigens für das Museum entstanden
In der Arbeit „Fallen Gardens“ wird die Hierarchisierung und die Festsetzung von Wissen durch Umkehr in das Gegenteil anschaulich. Ein abfallender Strom aus Klebstreifen, auf die die Künstlerin Zeile für Zeile ganze Bücher überträgt und damit die Originale auslöscht, entleert das Wissen im Raum, von der Decke bis zum Boden. In der neuesten, raumgreifenden Installation „Leaves of Eden vs. Fleurs du Mal“, die, wie auch einige weitere Werke eigens für das Museum entstanden sind, fungieren die von Plakatwänden gesammelten bunten Klebestreifen als raumgreifendes Netz und Träger für die organisch anmutenden hängenden und liegenden Objekte.
Phantastische Welten
Seit rund zwei Jahrzehnten beschäftigt sich Jenny Michel intensiv mit den Überbleibseln unserer Zivilisation. Ihre Faszination für Wissensordnungen, Symbole und Utopien zeigt sich in den Installationen, Zeichnungen, Druckgraphiken und Skulpturen, die immer wieder in raumgreifenden Gesamtkompositionen ausgestellt wurden. Fragmente aus technischen Schaltplänen, Flucht- und Rettungsplänen, Emblemen, Symbolen, Zeichnungen und Notizen nehmen den Raum ein. Michel lässt ihre phantastischen Welten und Weltfragmente aus den Werkstoffen Papier, Folie, Klebeband, Heftklammern und aus industriell gefertigten Kleinteile zu betörenden und verstörend dichten Strukturen wachsen. Das menschliche Wissen, so führt uns die Künstlerin eindrücklich vor Augen, wird zum Zivilisationsschrott, dessen Lesbarkeit sich unter Schichten von Bedeutung, Umschreibungen und Überlagerung von Zuweisungen verliert.
Hohe haptische Qualität
Jenny Michel bewegt sich in ihren Werken spielend zwischen verschiedenen geistes- und naturwissenschaftlichen Disziplinen, die sie in höchst reflektierter Weise zueinander in Beziehung setzt. Ihr Medium ist das der Collage, obgleich es sich um Zeichnungen, Skulpturen, Wand- oder Rauminstallationen handelt. Sie hat sich den Materialien Papier und Holz verschrieben, die von hoher haptischer Qualität sind. Scheinbar Alltägliches und Abfall werden zum Baustoff ihrer künstlerischen Manifestationen. Über Jahre hinweg ist so ein dichtes Werk entstanden. „Ich schätze an ihrer Kunst, dass sie Intellekt und Gefühl gleichermaßen anspricht“, sagt Museumschefin und Kuratorin Ina Dinter. „Ihr Umgang mit den Materialien Papier und Pappe und das Ausloten deren haptischer und narrativer Qualitäten passt wunderbar zu unserem Sammlungsschwerpunkt der Kunst aus Papier.“
Es ist wahrlich eine grandiose Schau, die aktuell das Kunstmuseum Villa Zanders der Öffentlichkeit zugänglich macht. Das Werk von Jenny Michel fordert auf zur Spurensuche, in der man unwillkürlich zum Archäologen, Philosophen und Mystiker wird. In ihrem Kosmos nimmt uns die Künstlerin mit auf eine Reise durch unsere Zivilisation, zu verlorenen Paradiesen, Ruinen, Utopien und Dystopien der menschlichen Gesellschaft. Peter Köster