Ausstellungsprogramm 2022 Schirn: – Von Charlos Bunga über Gauri Gill bis Marc Chagall und Niki de Saint Phalle

Jeanne Mammen, Sterbender Krieger (Junger Soldat im Frontfeuer), um 1943, Tempera auf Karton, 151 x 140 cm, Jeanne-Mammen-Stiftung im Stadtmuseum Berlin, © Jeanne-Mammen-Stiftung im Stadtmuseum Berlin / VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Oliver Ziebe, Berlin

Frankfurt/Main. Das neue Jahr in der Schirn Kunsthalle Frankfurt beginnt mit der Grup­pen­aus­stel­lung Walk“ (18. Februar bis 22. Mai), die sich der bisher kaum beleuch­te­ten Facette des Gehens in der Gegen­warts­kunst widmet und nach der Ausein­an­der­set­zung und Erwei­te­run­gen der „Walking Art“ fragt. Ein besonderer Höhepunkt steht mit der Ausstellung „Chagall. Welt In Aufruhr“ bevor, die vom 4. Novem­ber bis 19. Februar 2023 zu sehen sein wird.
Facette des Gehens

Zurück zur Ausstellung „Walk“. Der Akt des Gehens hat als gesellschaftliches Phänomen im 21. Jahrhunderts an neuer Bedeutung gewonnen. Mit der Gruppenausstellung gibt die Schirn einen Überblick zu der bisher wenig beleuchteten Facette des Gehens als Praxis in der gegenwärtigen Kunstproduktion. Gleichzeitig fragt sie nach der zeitgenössischen Auseinandersetzung und Erweiterungen der Walking Art, deren Ursprünge in Minimalismus, Land Art und Konzeptkunst der 1960er-Jahre liegen. Zeit­gleich ist eine archi­tek­to­ni­sche Instal­la­tion des Künst­lers Carlos Bunga zu sehen, die er spezi­ell für die Rotunde der Schirn entwi­ckelt.

Marc Chagall, Die Lichter der Hochzeit, 1945, Öl auf Leinwand, 123 x 120 cm, Kunsthaus Zürich, © Kunsthaus Zürich, Geschenk Nachlass Ernst Göhner, 1973 / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Das Nomadische

Das Nomadische bezeichnet Carlos Bunga (*1976) als charakteristisch für sich und seine Arbeit. Instabilität des Lebensraums, Vertreibung und Migration wirken prägend auf das Werk des Künstlers. Bungas architektonische Installationen hinterfragen die Vorstellung von Sicherheit und Gewissheit der
menschlichen und materiellen Existenz und setzen ihr die stetige Veränderung als einzige Konstante entgegen. Der Künstler verwendet für seine monumentalen Werke einfache Materialien wie Kartonplatten und Klebeband.

„Kunst für Keinen“

Mit der Über­blicks­aus­stel­lung „Kunst für Keinen“ (4. März bis 6. Juni) zeigt die Schirn, welche unter­schied­li­chen Stra­te­gien und Hand­lungs­spiel­räume Kunst­schaf­fende nutz­ten, die während des Natio­nal­so­zia­lis­mus in Deutsch­land geblie­ben waren, aber keinen Anschluss an das Regime such­ten oder fanden.  Zwischen 1933 und 1945 kontrollierte das nationalsozialistische Regime das künstlerische Schaffen in Deutschland. Insbesondere Künstlerinnen und Künstler, die wegen ihrer Religion, ihrer Herkunft oder politischen Einstellung verfolgt wurden, flüchteten vor den staatlichen Bedrohungen in die Emigration. Was aber passierte mit denjenigen, die im Land blieben? Isolation, fehlendes Publikum und mangelnder Austausch prägten das Schaffen jener, denen im
Nationalsozialismus die Arbeits- und Lebensgrundlage entzogen wurde. Kreativität trotz Materialknappheit, Beschäftigung mit existenziellen Themen und inhaltliche Anpassung waren Reaktionen auf die NS-Kunstpolitik. Die Ausstellung beleuchtet mit individuellen Fallbeispielen und etwa 140 Gemälden, Skulpturen, Zeichnungen und Fotografien die Widersprüchlichkeit dieser Zeit.

Hannah Höch, 1945 (Das Ende), 1945, Öl auf Leinwand, 92,8 x 81,4 cm, Berliner Sparkasse, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Poetische Installation

Im Sommer widmet die Schirn dem renom­mier­ten Schwei­zer Konzept- und Instal­la­ti­ons­künst­ler Ugo Rondi­none eine große Ausstel­lung. Für „Life Time“ (24. Juni bis 18. Septem­ber) verbin­det Rondi­none (*1964) zentrale Gemälde, Skulp­tu­ren und Video­ar­bei­ten zu einer poeti­schen Instal­la­tion, die sich über die gesamte Länge der Gale­rie der Schirn und in die Rotunde erstreckt. Paral­lel präsen­tiert der nieder­län­di­sche Künst­ler Aernout Mik (7. Juli – 3. Okto­ber) die Video­in­stal­la­tion „Double Bind“ (2018) sowie die eigens für die Ausstel­lung konzi­pierte Arbeit „Thres­hold Barri­ers“ (2022). Beide Werke gehen den Sugges­tio­nen und Dyna­mi­ken von Sicher­heit und Bedro­hung, Macht und Ohnmacht im öffent­li­chen Raum nach und treten mitein­an­der in Dialog. Die Raum- und Filminstallationen von Aernout Mik (*1962) schaffen eindringliche Situationen, die dem Verhalten und der Interaktion von Gruppen in oft instabilen gesellschaftlichen Kontexten nachgehen.

Indische Gesellschaft

Im Herbst zeigt die Schirn erst­mals das viel­schich­tige foto­gra­fi­sche Schaf­fen der indi­schen Künst­le­rin und Foto­gra­fin Gauri Gill (13. Okto­ber bis 8. Januar 2023) in einer großen Über­blicks­aus­stel­lung. Zu sehen sind rund 200 Werke aus zentra­len Serien, mit denen Gill (*1970) seit über zwei Jahr­zehn­ten den Blick auf kaum wahr­ge­nom­mene Rand­be­rei­che der indi­schen Gesell­schaft, abseits der urba­nen Zentren rich­tet. In einem offenen, kollaborativen Prozess und entgegen dokumentarischen Konventionen widmet sie sich Themen wie Überleben und Selbstbehauptung, Identität und Zugehörigkeit, aber auch konzeptuellen Fragen nach Erinnerung und Autorschaft.

Ernst Wilhelm Nay, Frauenkopf in Hand gestützt, 1944, Gouache auf Papier, 15,4 x 23,7 cm, Leopold-Hoesch-Museum & Papiermuseum Düren, © Ernst Wilhelm Nay Stiftung / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Jüdische Lebenswelt

Ebenfall im Herbst bietet die Schirn mit der Ausstellung „Chagall. Welt In Aufruhr“ (4. Novem­ber bis 19. Februar 2023) ein absolutes Highlight. Marc Chagall (1887–1985) gilt als Poet unter den Künstlern der Moderne. In der Schau wird  eine bislang wenig bekannte Seite seines Schaffens beleuchtet: Chagalls Werke der 1930er- und 1940er-Jahre, in denen sich seine farbenfrohe Palette verdunkelt. Bereits in den frühen 1930er-Jahren thematisierte Chagall in seiner Kunst den immer aggressiver werdenden Antisemitismus und emigrierte 1941 schließlich in die USA. Sein künstlerisches Schaffen in diesen Jahren berührt zentrale Themen wie Identität, Heimat und Exil. Mit über 100 eindringlichen Gemälden, Papierarbeiten, Fotos und Dokumenten zeichnet die Ausstellung die Suche des Künstlers nach einer Bildsprache im Angesicht von Vertreibung und Verfolgung nach. Sie präsentiert wichtige Werke der 1930er-Jahre, in denen sich Chagall vermehrt mit der jüdischen Lebenswelt beschäftigt, zahlreiche Selbstbildnisse, seine Hinwendung zu allegorischen und biblischen Themen, die bedeutenden Gestaltungen der Ballette „Aleko“ (1942) und „Der Feuervogel“ (1945) im Exil, die wiederkehrende Auseinandersetzung mit seiner Heimatstadt Vitebsk und Hauptwerke wie „Der Engelssturz“ (1923/1933/1947). In der Zusammenschau ermöglicht die Schirn eine neue und äußerst aktuelle Perspektive auf das Œuvre eines der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts.

Legendäre „Nanas“

Die Programm­vor­schau endet mit einem weiteren Höhepunkt, der bereits das Frühjahr 2023 berührt. Es geht um Niki De Saint Phalle. Die Schirn hinterfragt das eigen­wil­lige Werk dieser visio­nä­ren Außen­sei­te­rin, die ihre Kunst aus einer radi­kal femi­nis­ti­schen Haltung und ihrer ganz persön­li­chen Gefühls­ver­ar­bei­tung heraus entwi­ckelte. Niki de Saint Phalle (1930–2002) zählt zu den bekanntesten Künstlerinnen ihrer Generation. Sie entwickelte eine unverwechselbare Formensprache und schuf ein ebenso eigenwilliges wie facettenreiches Werk. Die „Nanas“, ihre bunten, großformatigen Frauenfiguren, begründeten ihren internationalen Erfolg und gelten bis heute als ihr Markenzeichen. Dabei ist das künstlerische Spektrum der Autodidaktin sehr viel breiter, ihr Werk subversiver und gesellschaftskritischer als weithin angenommen.

Carlos Bunga, Installationsansicht, © Secession, 2021, Foto: Iris Ranzinger

Legendäre „Schießbilder“

Niki de Saint Phalle entwickelte ihre Kunst aus ihrer ganz persönlichen Gefühlsverarbeitung wie auch aus einer radikal feministischen Haltung heraus. Sie nahm sich sozialer und politischer Themen an, kritisierte Institutionen und Rollenbilder und verhandelte in ihrem Werk öffentliche Diskurse, die bis heute ihre Relevanz behalten haben. Ihre legendären „Schießbilder“ entstanden in provokativen Performances und ihre eindrücklichen Installationen im öffentlichen Raum zeugen von einer transformativen Wirkungskraft ihrer Kunst, die sich ebenso in Malerei, Zeichnung, Assemblagen, Aktionen und großformatigen Installationen, aber auch in Theater, Film und Architektur

entfaltete. pk