Frankfurt/Main. Das neue Jahr in der Schirn Kunsthalle Frankfurt beginnt mit der Gruppenausstellung „Walk“ (18. Februar bis 22. Mai), die sich der bisher kaum beleuchteten Facette des Gehens in der Gegenwartskunst widmet und nach der Auseinandersetzung und Erweiterungen der „Walking Art“ fragt. Ein besonderer Höhepunkt steht mit der Ausstellung „Chagall. Welt In Aufruhr“ bevor, die vom 4. November bis 19. Februar 2023 zu sehen sein wird.
Facette des Gehens
Zurück zur Ausstellung „Walk“. Der Akt des Gehens hat als gesellschaftliches Phänomen im 21. Jahrhunderts an neuer Bedeutung gewonnen. Mit der Gruppenausstellung gibt die Schirn einen Überblick zu der bisher wenig beleuchteten Facette des Gehens als Praxis in der gegenwärtigen Kunstproduktion. Gleichzeitig fragt sie nach der zeitgenössischen Auseinandersetzung und Erweiterungen der Walking Art, deren Ursprünge in Minimalismus, Land Art und Konzeptkunst der 1960er-Jahre liegen. Zeitgleich ist eine architektonische Installation des Künstlers Carlos Bunga zu sehen, die er speziell für die Rotunde der Schirn entwickelt.
Das Nomadische
Das Nomadische bezeichnet Carlos Bunga (*1976) als charakteristisch für sich und seine Arbeit. Instabilität des Lebensraums, Vertreibung und Migration wirken prägend auf das Werk des Künstlers. Bungas architektonische Installationen hinterfragen die Vorstellung von Sicherheit und Gewissheit der
menschlichen und materiellen Existenz und setzen ihr die stetige Veränderung als einzige Konstante entgegen. Der Künstler verwendet für seine monumentalen Werke einfache Materialien wie Kartonplatten und Klebeband.
„Kunst für Keinen“
Mit der Überblicksausstellung „Kunst für Keinen“ (4. März bis 6. Juni) zeigt die Schirn, welche unterschiedlichen Strategien und Handlungsspielräume Kunstschaffende nutzten, die während des Nationalsozialismus in Deutschland geblieben waren, aber keinen Anschluss an das Regime suchten oder fanden. Zwischen 1933 und 1945 kontrollierte das nationalsozialistische Regime das künstlerische Schaffen in Deutschland. Insbesondere Künstlerinnen und Künstler, die wegen ihrer Religion, ihrer Herkunft oder politischen Einstellung verfolgt wurden, flüchteten vor den staatlichen Bedrohungen in die Emigration. Was aber passierte mit denjenigen, die im Land blieben? Isolation, fehlendes Publikum und mangelnder Austausch prägten das Schaffen jener, denen im
Nationalsozialismus die Arbeits- und Lebensgrundlage entzogen wurde. Kreativität trotz Materialknappheit, Beschäftigung mit existenziellen Themen und inhaltliche Anpassung waren Reaktionen auf die NS-Kunstpolitik. Die Ausstellung beleuchtet mit individuellen Fallbeispielen und etwa 140 Gemälden, Skulpturen, Zeichnungen und Fotografien die Widersprüchlichkeit dieser Zeit.
Poetische Installation
Im Sommer widmet die Schirn dem renommierten Schweizer Konzept- und Installationskünstler Ugo Rondinone eine große Ausstellung. Für „Life Time“ (24. Juni bis 18. September) verbindet Rondinone (*1964) zentrale Gemälde, Skulpturen und Videoarbeiten zu einer poetischen Installation, die sich über die gesamte Länge der Galerie der Schirn und in die Rotunde erstreckt. Parallel präsentiert der niederländische Künstler Aernout Mik (7. Juli – 3. Oktober) die Videoinstallation „Double Bind“ (2018) sowie die eigens für die Ausstellung konzipierte Arbeit „Threshold Barriers“ (2022). Beide Werke gehen den Suggestionen und Dynamiken von Sicherheit und Bedrohung, Macht und Ohnmacht im öffentlichen Raum nach und treten miteinander in Dialog. Die Raum- und Filminstallationen von Aernout Mik (*1962) schaffen eindringliche Situationen, die dem Verhalten und der Interaktion von Gruppen in oft instabilen gesellschaftlichen Kontexten nachgehen.
Indische Gesellschaft
Im Herbst zeigt die Schirn erstmals das vielschichtige fotografische Schaffen der indischen Künstlerin und Fotografin Gauri Gill (13. Oktober bis 8. Januar 2023) in einer großen Überblicksausstellung. Zu sehen sind rund 200 Werke aus zentralen Serien, mit denen Gill (*1970) seit über zwei Jahrzehnten den Blick auf kaum wahrgenommene Randbereiche der indischen Gesellschaft, abseits der urbanen Zentren richtet. In einem offenen, kollaborativen Prozess und entgegen dokumentarischen Konventionen widmet sie sich Themen wie Überleben und Selbstbehauptung, Identität und Zugehörigkeit, aber auch konzeptuellen Fragen nach Erinnerung und Autorschaft.
Jüdische Lebenswelt
Ebenfall im Herbst bietet die Schirn mit der Ausstellung „Chagall. Welt In Aufruhr“ (4. November bis 19. Februar 2023) ein absolutes Highlight. Marc Chagall (1887–1985) gilt als Poet unter den Künstlern der Moderne. In der Schau wird eine bislang wenig bekannte Seite seines Schaffens beleuchtet: Chagalls Werke der 1930er- und 1940er-Jahre, in denen sich seine farbenfrohe Palette verdunkelt. Bereits in den frühen 1930er-Jahren thematisierte Chagall in seiner Kunst den immer aggressiver werdenden Antisemitismus und emigrierte 1941 schließlich in die USA. Sein künstlerisches Schaffen in diesen Jahren berührt zentrale Themen wie Identität, Heimat und Exil. Mit über 100 eindringlichen Gemälden, Papierarbeiten, Fotos und Dokumenten zeichnet die Ausstellung die Suche des Künstlers nach einer Bildsprache im Angesicht von Vertreibung und Verfolgung nach. Sie präsentiert wichtige Werke der 1930er-Jahre, in denen sich Chagall vermehrt mit der jüdischen Lebenswelt beschäftigt, zahlreiche Selbstbildnisse, seine Hinwendung zu allegorischen und biblischen Themen, die bedeutenden Gestaltungen der Ballette „Aleko“ (1942) und „Der Feuervogel“ (1945) im Exil, die wiederkehrende Auseinandersetzung mit seiner Heimatstadt Vitebsk und Hauptwerke wie „Der Engelssturz“ (1923/1933/1947). In der Zusammenschau ermöglicht die Schirn eine neue und äußerst aktuelle Perspektive auf das Œuvre eines der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts.
Legendäre „Nanas“
Die Programmvorschau endet mit einem weiteren Höhepunkt, der bereits das Frühjahr 2023 berührt. Es geht um Niki De Saint Phalle. Die Schirn hinterfragt das eigenwillige Werk dieser visionären Außenseiterin, die ihre Kunst aus einer radikal feministischen Haltung und ihrer ganz persönlichen Gefühlsverarbeitung heraus entwickelte. Niki de Saint Phalle (1930–2002) zählt zu den bekanntesten Künstlerinnen ihrer Generation. Sie entwickelte eine unverwechselbare Formensprache und schuf ein ebenso eigenwilliges wie facettenreiches Werk. Die „Nanas“, ihre bunten, großformatigen Frauenfiguren, begründeten ihren internationalen Erfolg und gelten bis heute als ihr Markenzeichen. Dabei ist das künstlerische Spektrum der Autodidaktin sehr viel breiter, ihr Werk subversiver und gesellschaftskritischer als weithin angenommen.
Legendäre „Schießbilder“
Niki de Saint Phalle entwickelte ihre Kunst aus ihrer ganz persönlichen Gefühlsverarbeitung wie auch aus einer radikal feministischen Haltung heraus. Sie nahm sich sozialer und politischer Themen an, kritisierte Institutionen und Rollenbilder und verhandelte in ihrem Werk öffentliche Diskurse, die bis heute ihre Relevanz behalten haben. Ihre legendären „Schießbilder“ entstanden in provokativen Performances und ihre eindrücklichen Installationen im öffentlichen Raum zeugen von einer transformativen Wirkungskraft ihrer Kunst, die sich ebenso in Malerei, Zeichnung, Assemblagen, Aktionen und großformatigen Installationen, aber auch in Theater, Film und Architektur
entfaltete. pk