KABINETT im Interview
mit Raphael M. Bonelli
KABINETT: Herr Dr. Bonelli, Ihre Forschung zeigt, dass Wähler rechtspopulistischer Parteien oft dazu neigen, Fakten zu ignorieren oder sogar Halbwahrheiten zu akzeptieren. Können Sie erläutern, welche psychologischen Mechanismen dahinterstecken und warum diese so stark wirken?
Bonelli: Nicht nur Wähler rechtspopulistischer Parteien sondern alle Wähler blenden oft Fakten bei ihrer Wahlentscheidung aus. Je ideologisierter die Person ist, umso ausgeprägter das Phänomen. Das lässt sich einerseits mit der sogenannten „Kognitiven Dissonanzreduktion“ erklären: Menschen empfinden Unbehagen, wenn ihre Überzeugungen, Werte oder Handlungen im Widerspruch zu offensichtlichen Fakten stehen. Um dieses Unbehagendie „Dissonanz“ – zu reduzieren, ignorieren sie oft die widersprüchlichen Fakten oder interpretieren sie so, dass sie mit ihren bestehenden Überzeugungen übereinstimmen. Andererseits weisen sie oft eine selektive Wahrnehmung auf, oder gar eine Verdrängung unangenehmer Fakten. Und natürlich kommt es oft zum Bestätigungsfehler, dem sogenannten „Confirmation Bias„: Menschen suchen in ihrer Blase nur mehr Informationen, die ihre Annahmen bestätigen, und meiden oder ignorieren solche, die sie widerlegen könnten.
KABINETT: Der Ärger über das „System“ scheint ein zentrales Motiv dieser Wähler zu sein. Welche psychologischen Auslöser stehen Ihrer Meinung nach hinter dieser Wut, und warum richtet sie sich speziell gegen das etablierte System?
Bonelli: Ideologisierte Wähler von weit rechts oder weit links verspüren sehr häufig ein Gefühl der Ohnmacht und des Kontrollverlustes. Um komplexe und oft diffuse Probleme (z. B. Globalisierung, Klimawandel, soziale Ungleichheit, Migration) zu bewältigen, suchen Menschen einfache Erklärungen und Verantwortliche.
Viele Menschen fühlen sich durch den rapiden gesellschaftliche Wandel (z. B. kulturelle Diversität, Digitalisierung, Wertewandel) entwurzelt und bedroht in ihrer traditionellen Lebensweise; sie entwickeln eine Identitätskrise. Gesellschaftlich kommt es zunehmend zu einer Spaltung und Radikalisierung der Ränder.
KABINETT: Inwiefern beeinflussen emotionale Bedürfnisse und persönliche Identitäten die politische Entscheidung? Haben Sie Erkenntnisse darüber, welche Bedürfnisse von populistischen Parteien gezielt angesprochen werden?
Bonelli: Immer beeinflussen die ureigenen Bedürfnisse das Wahlverhalten. Populismus ist eine politische Strategie, die darauf abzielt, die Interessen und Gefühle des „einfachen Volkes“ gegen eine angeblich korrupte und abgehobene Elite zu mobilisieren. Er ist kein eigenständiges ideologisches Konzept, sondern ein flexibler Ansatz, der sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite des politischen Spektrums zu finden ist. Die zentrale Idee des Populismus ist die Dichotomie zwischen dem „reinen Volk“ und der „korrupten Elite„. Hier ähneln sich ironischerweise Links und Rechts, wie in vielen anderen Bereichen auch – was beide vehement abstreiten würden.
KABINETT: Sie sprechen häufig von einem Spannungsfeld zwischen Bauchgefühl und rationaler Entscheidung. Welche Rolle spielt dieses Bauchgefühl in politischen Überzeugungen und in der Anfälligkeit für Manipulation?
Bonelli: Die Manipulation der Bauchgefühle kann das Bedienen der Gier oder der Angst sein. Zuckerbrot und Peitsche also. Aber eine nicht unbedeutende Manipulationstechnik heutzutage ist das kollektive Denkverbot, das ich in meinem Buch „Die Kunst des Ankommens“ ausführlich erkläre.
KABINETT: In Ihrem Buch „Die Kunst des Ankommens“ beleuchten Sie die Rolle von Emotionen in der Entscheidungsfindung. Welche Parallelen sehen Sie zwischen diesen persönlichen Entscheidungsprozessen und der Unterstützung für rechtspopulistische Politiker?
Bonelli: Jede Entscheidung basiert auf seinen Gefühle und seinen Werten. Populismus zielt allerdings eher auf die unreflektierten Emotionen ab.
KABINETT: Was hat Sie dazu inspiriert, dieses Thema zu untersuchen? Gab es ein Schlüsselerlebnis oder eine persönliche Beobachtung, welches Sie in diese Richtung gelenkt hat?
Bonelli: In meine psychiatrische Praxis kommen immer mehr Menschen, die sich nicht angekommen fühlen, nicht beheimatet und nicht mehr zu Hause in dieser Gesellschaft. So habe ich mich auf die Suche gemacht nach den Hindernissen und der Kunst des Ankommens.
KABINETT: Sie haben an angesehenen Universitäten wie Harvard und UCLA geforscht. Welche wissenschaftlichen Ansätze und Perspektiven aus Ihrer Zeit dort beeinflussen Ihre heutige Arbeit und Ihre Analysen der politischen Psychologie?
Bonelli: Harvard, UCLA und auch die Duke-University hat mich insofern geprägt, als ich außergewöhnliche Forschungspersönlichkeiten kennengelernt habe, von denen ich die unideologische, unvoreingenommene wissenschaftliche Fragestellung gelernt habe. Denn jedes ideologische Denkverbot verhindert es, die Wirklichkeit so zu sehen wie sie ist. In diesem Fall die ideologische Verwandtschaft von radikalem linkem und rechten Denken.
KABINETT: Wie schätzen Sie die Zukunft ein? Gibt es aus Ihrer Sicht eine Chance, durch psychologische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse das Vertrauen in das System wiederherzustellen und die Polarisierung zu mindern?
Bonelli: Ich bin von Natur aus Optimist. Wir hatten in unserer Geschichte schon viele Tiefpunkte, die wir immer mit einer gemeinsamen gesellschaftlichen Anstrengung überwunden haben. Da sind die Politiker und Medien jetzt sehr gefordert, die Polarisierung nicht weiter voranzutreiben. Als im Österreich der Zwischenkriegszeit die Linken und die Konservativen nicht mehr miteinander sprachen, begannen sie irgendwann, aufeinander zu schießen. Ich wünsche mir eine Dialogkultur über die Parteigrenzen hinweg, ohne antifaschistischen Schutzwall oder Brandmauer, wie es neuerdings heißt.
Bibliografie:
Jeder Mensch verspürt die Sehnsucht, anzukommen: an einem Ort, in einer Beziehung, in seinem Tun.
Aber warum fällt das Ankommen so schwer? Warum halten sich so viele stets eine Hintertür offen, anstatt sich ganz auf etwas einzulassen? Warum quält so oft die Frage, ob alles nicht noch besser sein könnte?
Neurowissenschaftler, Psychiater, Influencer und Spiegel-Bestsellerautor Raphael M. Bonelli weiß aus eigener Erfahrung und langjähriger Praxis, wie die Kunst des Ankommens funktioniert. In seinem neuen Buch zeigt er Leserinnen und Lesern, wie sie den Weg zu einem tiefen Glück ebenfalls finden können.
edition a
Die Kunst des Ankommens – Wie wir unseren Platz im Leben finden
272 Seiten
ISBN 978-3-99001-747-0
26,00 Euro (D)
Seit dem 22. November 2024 erhältlich.
Über den Autor
Raphael M. Bonelli, geboren 1968, ist Neurowissenschaftler und habilitierter Psychiater. Er arbeitet in der Wiener Innenstadt in eigener Praxis. Forschungsaufenthalte führten ihn an die Harvard University, die University of California Los Angeles (UCLA) und die Duke University. Bonelli leitet das RPP-Institut und betreibt damit Social-Media-Kanäle mit insgesamt etwa 350.000 Abonnenten. Er ist Autor mehrerer Bücher über psychologische Themen, sein letztes Buch „Bauchgefühle“ wurde ein SPIEGEL-Bestseller.