Karlspreis ehrt die mutigsten Frauen Europas

Karlspreisträgerinnen 2022: Tatsiana Khomich, Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo, umrahmt von Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen (li.) und Dr. Jürgen Linden, Vorsitzender des Karlspreisdirektoriums winken vor dem Aachener Rathauses den Bürger*innen zu. Alle Fotos © Stadt Aachen / Andreas Herrmann

Gänsehaut und ein paar Tränen der Trauer, aber auch der Freude, beschreiben die Gefühle und die Botschaften der diesjährigen Karlspreisverleihung in Aachen wohl am besten für drei belarussische Bürgerrechtlerinnen:  Swetlana Tichanowskaja, Veronica Tsepkalo und – stellvertretend für ihre inhaftierte Schwester Maria Kalesnikava – Tatsiana Khomich bedankten sich vor gut 600 Gästen im Krönungssaal des Aachener Rathauses für die Auszeichnung, die sie von Jürgen Linden, dem Vorsitzenden des Karlspreisdirektoriums, und Aachens Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen, überreicht bekamen.

Vom Publikum gab es Standing Ovations. Zunächst im Krönungsaal des Aachener Rathauses, dort wird traditionell an Christi Himmelfahrt die Auszeichnung für Einheit Europas verliehen. Nach Abschluss der bewegenden Zeremonie traten sie vor weit über tausend Bürger*innen mit eindringlichen Appellen und Signalen auf die öffentliche Bühne am Katschhof. Mit Blick auf Dom, den sie zuvor besuchten. Bischof Dr. Helmut Dieser fand ungewöhnlich klare Worte gegen die Diktatur in Belarus und Russland, auch die russisch-orthodoxe Kirche trage Schuld und verlasse die christliche Ökumene. Ob seine Worte „Wohlwollen gegenüber anderen“, die Europa auszeichneten, Früchte tragen werden, beschäftigt die leidgeplagten Menschen in Belarus und der Ukraine vielleicht nur am Rande. Aber Mut machen und Zuversicht schöpfen, das waren einhellige Botschaften bei der Preisverleihung. „Zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde eine europäische Bewegung aus dem Volk ausgezeichnet, die Widerstand gegen ein autokratisches System leistet“, sagte Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen.

Laudatio hielt Außenministerin Baerbock

Annalena Baerbock, selbst Mutter zweier Kinder und vielbeschäftigte Außerministerin, nahm sich Zeit für diese wichtige Preisverleihung  an die „mutigsten Frauen in ganz Europa“. In ihrer Laudatio betonte sie, immer mit Blick auf die Damen,  dass 2003 ein kleines Licht mit der Forderung alle politischen Gefangenen in Belarus freizulassen, begonnen habe zu leuchten.  Es habe ganz Europas erhellt. Bis 2020, als die gewählte Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja unrechtmäßig von Machthaber Alexander Lukaschenko ins heutige Exil gedrängt wurde. Ein Schicksal, dass alle drei Preisträgerinnen teilen, um nicht selbst in Haft zu geraten wie ihre Ehemänner.  „Sie sind für Millionen Frauen in Europa ein Vorbild, denn die Freiheit kann man nicht ins Exil vertreiben“, sagte Baerbock.  Die deutsche und europäische Politik müsse sich für die osteuropäischen Nachbarn neu ausrichten und aus Fehlern der Vergangenheit lernen.  Seit dem 24. Februar 2022 sei die Welt eine andere, als Russland die Ukraine angegriffen habe und Belarus als Satellit mitbenutze. „Ihr gehört zu Europa. Wir haben euch nicht vergessen und wir hören euch zu“, betonte die Ministerin eindrücklich und fügte hinzu: „Die demokratische Freiheit wird siegen.“

Moderne Zeiten: ein Selfie mit Würdenträgern vor Publikum und Dom.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte

Mindestens 1.300 Menschen sitzen derzeit als politische Gefangene in Belarus in Haft. So wie die abwesende Maria Kalesnikava, die auf acht Quadratmetern nun als Terrorverdächtige in Einzelhaft sitze, berichtete Tatsiana Khomich stellvertretend für ihre Schwester aktuell. Immer ein Bild von Maria ganz nah am Herzen tragend. Unter dem Konterfei prangte die deutliche Aufforderung: #freekalesnikava.

 „Der Karlspreis geht an alle Belarussen!“

„Lassen Sie mich klarstellen: Der Karlspreis gehört nicht mir, und auch nicht uns als Trio. Er geht an alle Belarussen. An die, die in ihrem friedlichen, gewaltfreien Kampf gegen die Tyrannei enorme Anstrengungen und Hingabe gezeigt haben. Der Preis gehört den belarussischen Frauen, Journalisten und furchtlosen Freiwilligen. Er gehört auch jedem Kind, das auf seine Mutter oder seinen Vater wartet, die ihm Gefängnis sitzen“, sagte Swetlana Tichanowskaja, die eigentlich gar nicht Politikerin sein wollte, sondern Mutter. Aber die Umstände hätten ihr keine Wahl gelassen. Mut und Verantwortung waren auch bei ihren Worten zu spüren.

Tsepkalo: „Die hässliche Fratze der Diktatur“

Beeindruckend und bedrückend, rührend und persönlich: Das belarussische Trio zog die Gäste im Krönungssaal des Aachener Rathauses mit ihren Beiträgen völlig in ihren Bann. Als Veronica Tsepkalo – ohne Redemanuskript – frei und sehr privat vom Schicksal ihrer Familie berichtete, wie ihre sterbenskranke Mutter unter menschenunwürdigen Bedingungen in einem Minsker Krankenhaus an ein Bett gefesselt wurde, wie sie wenige Wochen später starb, da stockte vielen Zuhörer*innen der Atem. „In dem Moment, als ich meine Mutter so erleben musste, wurden mir die Augen geöffnet. Das war die hässliche Fratze der Diktatur.“ Im Krönungssaal berichtete Tspekalo von ihren lange geheim gehaltenen Familienwurzeln, die zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland führten. Ihr Großvater war Deutscher. Sie hat ihn nie kennengelernt. „Ich glaube fest daran, könnte er mich heute hier in Aachen erleben, würde er sagen: Ich bin sehr stolz auf meine Enkelin.“

Was alle drei Frauen eint, ist der hoffnungsvolle Blick in Richtung einer besseren Zukunft. Tatsiana Khomich sagte in ihrem Redebeitrag: „Im Moment schreiben die Belarussen nicht nur einzelne Seiten, sondern ganze Kapitel in der Geschichte über die Wiederherstellung von Demokratie und Freiheit in ganz Europa. Wir glauben, dass dieses Kapitel bald abgeschlossen sein wird und die diktatorischen Regime der Vergangenheit angehören werden. Einer Vergangenheit, die sich dieses Mal wirklich nie mehr wiederholen wird. Bitte vergesst uns nicht, wir brauchen eure Solidarität“, diese Worte waren umjubelt auf der öffentlichen Bühne am Katschhof. Ein Meer aus EU-Flaggen, Ballons und blauen Mützen, die als „Blue Karla“ – Farbe für ein Europa in Frieden und Freiheit bekannten.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sprach in ihrer Laudatio persönliche Worte, die unter die Haut gingen und deutliche Signale setzten.

Weitsicht zur rechten Zeit

Prof. Dr. Ulrich Rüdiger, Rektor der RWTH Aachen und Mitglied des Karlspreisdirektoriums, war qua Amt beileibe kein Zaungast. Schon einen Tag zuvor begeisterten die drei Frauen Studierende an der Hochschule mit ihrer Offenheit und Nahbarkeit.  Aus heutiger Sicht sei die Entscheidung, die bereits im vergangenen Jahrgefallen sei, mit der richtigen Weitsicht „goldrichtig“ getroffen worden, sagte der Rektor nach der Preisverleihung. Der Karlspreis habe sich modernisiert und trotz betrüblicher Zeiten ein starkes, aktuelles  Signal für Frieden und Freiheit in Europa gesetzt.  (Frank Fäller)