Über Kinderzeichnungen, verkannte Werke und Nofretete – Professor Alexander Markschies über das Verständnis von Kunst.
In der Interviewreihe „Große Fragen“ beantworten Expertinnen und Experten der RWTH Aachen Fragen, die die Welt bewegen. Professor Alexander Markschies ist Hochschullehrer mit Leib und Seele, hat die Universität nie verlassen, höchstens für Forschungsaufenthalte in Deutschland, Italien und den USA. Nach dem Studium der Kunstgeschichte in Berlin, Bonn, Florenz, Osnabrück und München wurde er Assistent, Juniorprofessor und schließlich Professor an der RWTH. Er forscht über europäische Kunst und Architektur vom hohen Mittelalter bis in die Gegenwart und ist unter anderem Autor des Buches „Brunelleschi“ über den Architekten Filippo Brunelleschi, erschienen im C.H. Beck Verlag.
„Jeder möchte die Kunst verstehen… Wenn es um ein Bild geht, denken die Leute, sie müssen es verstehen“. Das hat Picasso gesagt. Was sagen Sie?
Professor Alexander Markschies: Das ist zunächst eine Behauptung. Stimmt das überhaupt? Möchte wirklich jeder die Kunst verstehen? Das Zitat erhebt es fast zu einer Art Zwang, dass man sie unbedingt verstehen muss. Ich sehe hier mehrere Probleme.
Welche?
Markschies: Begeben wir uns in die Wahrnehmungs- und Wirkungssituation eines Kunstwerkes, etwa in einem Museum. Wir besuchen diesen Ort, um das Werk zu genießen oder, wie Kant es formulierte, um „Wohlgefallen ohne alles Interesse“ zu empfinden. Picasso hingegen beschreibt es als das Streben nach Verständnis, was positiv klingt, aber mit einem gewissen Zwang verbunden ist. Dieser Zwang kann unsympathisch und uns unangenehm sein, doch die Kunstgeschichte hilft uns dabei, da sie sich seit Jahrhunderten mit solchen Fragestellungen auseinandersetzt.
Wie wichtig ist es Ihnen persönlich, Kunst nicht nur zu genießen, sondern auch zu erfassen?
Markschies: Es ist mein Beruf, mich mit Kunst und Architektur zu beschäftigen. Für mich persönlich reicht es nicht, nur zu genießen – so schön es auch wäre. Wenn ich etwas nur genieße, ohne es zu verstehen, werde ich unruhig. Ich gehe zum Beispiel ungern in die Oper – vielleicht mit Ausnahme der Zauberflöte – oder höre klassische Musik, weil ich nicht nachvollziehen kann, was passiert. Das reine Erleben reicht mir nicht aus.
Aber ich persönlich darf durchaus auch ein Bild betrachten, ohne es in Gänze zu erfassen?
Markschies: Selbstverständlich. Es ist durchaus in Ordnung, Kunst nicht zu verstehen. Eben nicht zu denjenigen zu gehören, die nach Picasso ein Bild unbedingt verstehen müssen. Könnte es hier vielleicht um Zweifel gehen? Dass ich mich unwohl fühle, wenn ich etwas nicht verstehe oder erfasse? Zu zweifeln gehört vermutlich zu unserem Menschsein dazu. Kunst und der Umgang damit können helfen, mit diesen Gefühlen produktiv umzugehen.
Ich muss noch einmal auf die Picasso-Aussage zurückkommen: Sie klingt für mich ein wenig so, als sei man ungebildet oder unkultiviert, wenn man Kunst nicht versteht. Das muss nicht zwangsläufig so sein. Ich schlage vor, dass wir erst einmal anfangen zu schauen, zu hören und zu erleben, was möglicherweise das Besondere an Kunst ist und uns zu fragen: Kann ich damit etwas anfangen?
Was, wenn ich das nicht kann? Wenn ich denke: „Das ist doch gar keine Kunst, das kann weg“ oder „Ich verstehe das nicht“…?
Markschies: Ich lade jeden ein, der das sagt, mit mir ins Museum zu gehen, um zu zeigen, warum Kunst faszinierend ist. Das sehe ich als meine Aufgabe, weswegen ich auch an der Universität lehre und an Erwachsenenbildungsprogrammen teilnehme. Viele andere, die sich ebenfalls in diesem Bereich engagieren, sehen das ähnlich. Es geht darum, für Kunst zu werben, weil sie so bereichernd ist.
Können Sie das präzisieren?
Markschies: Ein Kunstwerk löst etwas in uns aus, bis hin zu körperlichen Reaktionen. Das ist beim Theater oder bei Musik vielleicht unmittelbarer, wir fangen an zu weinen, zu kreischen oder zu lachen. Wenn einen das an die Grenzen und darüber hinaus führt, ist das etwas Besonderes, das Leben wird dadurch noch lebenswerter. Ich glaube auch, dass jemand, der Kunst schätzt, kein böser Mensch sein kann. Ich gebe zumindest die Hoffnung nicht auf.
Wann hat ein Werk Sie zum letzten Mal berührt?
Markschies: Ich war gerade in Bochum in der Jahrhunderthalle und habe mir die Musiktheaterproduktion „I Want Absolute Beauty“ angesehen. Sandra Hüller singt PJ Harvey und ich habe vor Glück geweint, weil es so schön war. Es war mir nicht peinlich, sondern ein unglaubliches Geschenk.
Können Sie sich eine Welt ohne Museen, Theater und Literatur vorstellen?
Markschies: Nein. Ohne visuelle Angebote wäre ich kein Mensch. Kunst ermöglicht besondere Erlebnisse. Dabei fasse ich den Begriff sehr weit – nicht nur bildende Kunst, sondern auch Theater, Musik, Mode oder Design. Ohne das Artifizielle könnte ich nicht existieren. Meine Liebe dazu brachte mich dazu, Kunstgeschichte zu studieren.
Ich habe es schon immer geliebt, durch die Gegend zu fahren, Kunst anzuschauen, mich damit zu beschäftigen, sie zu verstehen und darüber zu sprechen. Das war schon immer ein wesentlicher Teil meines Lebens und meiner Identität.
Was verstehen wir heute unter Kunst?
Markschies: Alles kann ein Kunstwerk sein, wenn es zur Kunst erklärt wird. Diese Voraussetzung wurde im 20. Jahrhundert zentral, etwa durch Marcel Duchamps ‚Fountain‚, das 1917 bei der ‚Society of Independent Artists‚ in New York eingereicht wurde. Trotz des Mottos ‚No Jury, No Prizes‚ wurde „Fountain“, ein schlichtes Pissoir, abgelehnt, da es nicht als Kunstwerk galt. Duchamp stellte so das traditionelle Verständnis von Kunst in Frage, das handwerkliches Können bis dahin voraussetzt hat. Der Aachener Kunsthistoriker Heinz-Herbert Mann hat übrigens ein Buch über „Fountain“ geschrieben. Seitdem ist nicht viel Neues an Erkenntnis hinzugekommen, außer Spekulationen, dass „Fountain“ gar nicht von Duchamp ist, sondern von Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven.
Also hat sich der Kunstbegriff verändert?
Markschies: In alten Zeiten wusste man, was Kunst ist. Das war auch einigermaßen präzise definiert und man konnte sogar zwischen schlechter und guter Kunst unterscheiden, also die Qualitätsfrage stellen. Im 20. Jahrhundert ändert sich das fundamental. Nehmen wir zum Beispiel Norbert Kricke, einen deutschen Künstler, der einfach einen Strich auf Papier macht oder einen Draht auf den Fußboden legt. Ich gebe zu: Das fordert unser Verständnis von Kunst heraus und regt zumindest zur Diskussion an.
Was macht den Wert von Kunst aus?
Markschies: Kunst ist zum Beispiel mehr als der reine Materialwert. Im 15. Jahrhundert, der Neuzeit, wurde angefangen, über Kunst nachzudenken, es gibt erste moderne Texte darüber. Schriftlich greifbar wird beispielsweise die Aussage, Medaillen aus Silber und Gold, die von berühmten Künstlern dieser Zeit gefertigt wurden, seien mehr wert als der reine Materialwert. Es gibt noch ein paar der hinreißend schönen Medaillen aus dem Jahr 1499, die Ludwig XII. und Anne de Bretagne darstellen. Man kann sie im Louvre und anderen großen Museen bewundern, denn nicht alle Exemplare wurden eingeschmolzen. Das, was die Kunst ausmacht, ist genau der Unterschied zu dem Materialwert, nennen wir es das „plus x“. Die Idee, das Konzept und die Innovationshöhe spielen eine große Rolle.
Strichmännchen, Kinderzeichnungen, ein Stück Draht auf dem Boden – All das ist heutzutage Kunst?
Markschies: Kunst ist alles, was dazu erklärt wird. Wenn jemand der Meinung ist, dass das, was er macht Kunst ist, dann ist es auch so. Die Fragen, die man sich dazu nur stellen könnte sind: Wie wird das kommuniziert? Wie mache ich das zum Thema? Mache ich das nur für mich? Wie verdiene ich damit Geld? Jeder Mensch ist ein Künstler, das hat schon Joseph Beuys gesagt.
Apropos Beuys. Seine berühmten Installationen „Fettecke“ und „unbetitelt (Badewanne)“ wurden beide versehentlich zerstört und damit offenbar nicht als Kunst erkannt…
Markschies: Diese Geschichte holt einen immer wieder ein. Das ist Ewigkeiten her, oder? Da gibt es irgendwie eine Badewanne, die ein Kunstwerk ist…
Genau, zwei Frauen haben in dieser Wanne nach einer Feier Gläser gespült und damit die Installation zerstört. Auch seine „Fettecke“ wurde bei Putzarbeiten versehentlich weggewischt.
Markschies: Die Frauen haben gespült und dann ist es wieder eine Badewanne. Solche Geschichten reduzieren die Komplexität von Kunst erheblich. Ich vermute, dass das häufig von Menschen thematisiert und sogar instrumentalisiert wird, die nicht oft ins Museum gehen und bei denen Kunst hauptsächlich eine Aversion auslöst.
Wie bei Menschen, die sich wundern, warum es in Zeiten des Internets noch Bibliotheken mit Büchern gibt. Ich habe beobachtet, dass das meistens diejenigen sagen, die nicht viel lesen oder Bibliotheken besuchen. Denn, wenn sie es täten, würden sie merken, was für kostbare Orte es sind, weil man sich konzentrieren kann und schlichtweg Wissen und Erkenntnis greifbar werden. Mit Museen und Kunstwerken verhält es sich ähnlich.
Wie kann man mit Werken umgehen, die man nicht auf Anhieb versteht?
Markschies: Ich empfehle zunächst Fragen zu stellen: Ist das etwas Besonderes? Kann ich damit etwas anfangen? Man könnte beispielsweise auch überlegen, wie sich die Wirkung eines Werkes verändern würde, würde man eine Farbe austauschen. Durch Beschreibungen, Gespräche, das Ringen um Worte, entwickelt man langsam ein Verhältnis dazu. Offen zu sein kann nicht schaden, nicht alles muss sofort klar sein.
Können Sie mir das mal veranschaulichen?
Markschies: Stellen wir uns vor, wir stehen vor einer Zeichnung von Norbert Kricke. Wir können anfangen darüber zu sprechen und uns zu fragen: Welches Papier hat er benutzt? Wie groß ist das Blatt? Folgt der Strich einer Handbewegung, ist er gar eine Geste? Was verbindet die Zeichnungen Krickes mit den bildhauerischen Arbeiten? Max Imdahl hat darüber übrigens einen faszinierenden Aufsatz geschrieben.
Es gab in der Geschichte immer wieder Werke, die zunächst abgelehnt wurden…
Markschies: Ein klassisches Beispiel ist der Eiffelturm in Paris. Er wurde anfangs weitgehend abgelehnt. Der Schriftsteller Guy de Maupassant soll gesagt haben, der schönste Ort in Paris sei das Restaurant im Eiffelturm, weil man ihn von dort nicht sehen könne. Heute ist das für uns kaum vorstellbar, aber oft löst avancierte, moderne Architektur zunächst Aversionen aus. Ähnliches gilt für andere Kunstformen – was heute als Meisterwerk gilt, wurde früher manchmal heftig kritisiert.
Wird Kunst auch als bedrohlich wahrgenommen?
Markschies: Durchaus, weil sie möglicherweise täuscht, lügt und paradox sein kann. Kunst hat durchaus eine Kraft. Zahlreiche Werke wurden bei Bilderstürmen zerstört, beispielsweise in religiösen Kontexten. Man hat versucht, die bedrohliche, täuschende und magische Kraft zu bändigen, indem man den Kunstwerken beispielsweise die Augen ausgestochen hat.
Zerstörte Kunst, da fällt mir sofort „Entartete Kunst“ ein. Wie wurde dieser Begriff von den Nationalsozialisten definiert und verwendet?
Markschies: Die Nazis haben den schon etablierten Begriff der Entartung instrumentalisiert und alles geopfert, was nicht ihrem Ideal entsprach.
Welche Künstler und Kunstrichtungen waren hauptsächlich von der Bezeichnung „entartet“ betroffen?
Markschies: Zunächst und vor allem Werke jüdischer und kommunistischer Künstlerinnen und Künstler, moderne und abstrakte Kunst. Letztlich alles, was uns heute kostbar und wertvoll ist, wurde zu großen Teilen vernichtet oder ins Ausland verkauft. Stellen Sie sich vor, es gäbe noch den „Turm der blauen Pferde“ von Franz Marc… Da wir uns hier über das Thema „Ist das Kunst oder kann das weg?“ unterhalten, müssen wir an diese barbarische Zeit erinnern.
Wie sehen Sie aktuelle Debatten um den Umgang mit umstrittenen Kunstwerken oder Denkmälern?
Markschies: Nehmen wir als Beispiel die Lenin-Statue in Berlin, die nach der Wiedervereinigung abgebaut wurde. Heute würde man vielleicht anders handeln und sie zumindest in einem Museum ausstellen und thematisieren, anstatt sie vollständig zu entfernen. Oder die aktuelle Debatte um die Karajan-Büste im Theater Aachen, die entfernt wurde. Es ist gut, solche Themen zu diskutieren. Die Entscheidung der Intendantin Elena Tzavara unterstütze ich, zumal 1983 für die Aufstellung des bekennenden Nationalsozialisten Karajan eine Mozart-Büste weichen musste, die nun wieder ihren Platz gefunden und zu ihrem Recht gekommen ist.
Was macht ein Kunstwerk Ihrer Meinung nach besonders oder berühmt?
Markschies: Es ist vor allem der Markt, der dies bestimmt. Dabei spielen Konjunkturen und ähnliche Faktoren eine wichtige Rolle. Ebenso entscheidend ist, ob ein Werk einen Hype ausgelöst hat. Die Büste der Nofretete ist beispielsweise gefunden worden, ins Neue Museum nach Berlin gekommen und zu einem großen Ereignis geworden. Sie ist tatsächlich ein besonderes Kunstwerk, uralt, aber fantastisch erhalten und dazu noch wunderschön. Frauen haben sich so geschminkt, so gestylt, als Lookalike der Nofretete sozusagen. Vielleicht haben sogar Nasenoperationen stattgefunden, um dem Schönheitsideal zu entsprechen. Man könnte sagen, es ist modisch geworden. Oder warum ist Leonardo da Vincis „Mona Lisa“ so ein tolles Bild? Wenn Sie durch den Louvre gehen, gibt es ganz viele andere wunderbare Gemälde, aber viele Leute erklären genau dieses eine zu einem Meisterwerk und laufen den anderen hinterher.
Bei welchen drei Kunstwerken sind Sie persönlich froh, dass sie als solche angesehen wurden und nicht als „das kann weg„?
Markschies: Ich bin über alles froh und glücklich, was bleibt. Kunstwerke und Architektur, die mir besonders am Herzen liegen sind der Westchor des Naumburger Doms mit den Stifterfiguren des sogenannten Naumburger Meisters. Die Kirche „Santo Spirito“ in Florenz, nach Gian Lorenzo Bernini, der übrigens selbst ein famoser Architekt und Bildhauer war, die „schönste Kirche der Welt„. Und der frühe Gipsabguss der Nofretete im Reiff-Museum der RWTH, der hier bei mir im Büro steht.
In der Kunstgeschichte werden viele Künstler genannt, was ist mit Künstlerinnen?
Markschies: Das ist ein wichtiger Punkt, bei dem ich auch sehr schnell in Fußangeln tappe. Ich bediene da schon sehr konventionelle Gesellschaftsbilder, wenn ich immer nur Männer nenne. Ich möchte aber in einer diskriminierungsfreien und emanzipierten Welt leben. Das ist mir ein großes Anliegen, vor allem ein Selbstappell. Wollen wir das Interview vielleicht noch einmal führen?
Vielleicht darf ich daher mit der Künstlergruppe „Guerilla Girls“ enden und mit ihrem Superkunstwerk „Do woman have to be naked to get into the Met.Museum?“. Es ist ein Plakat, eine Art Billboard und zeigt einen weiblichen Akt nach der „Odaliske“ des Malers Ingres mit Gorillakopf. Kommentiert wird die Frage mit der Feststellung, dass 5 Prozent der Kunstwerke in Museen von Frauen sind, aber fünfundachtzig Prozent der nackten Figuren weiblich. Als ich das Werk zum ersten Mal sah, dachte ich: Wie beeindruckend präzise es umgesetzt wurde; ein starkes Bild, das sofort wirkt, right in the face.
Die Fragen stellte Nicola König.