Die RWTH bekennt sich zu ihrer Schuld und ihrer historischen Verantwortung

Bewegende Gedenkfeier in der Aula des RWTH-Hauptgebäudes. | Foto: Heike Lachmann

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Mit einer akademischen Gedenkfeier erinnert die RWTH an die Wissenschaftler der Hochschule, die während des Nationalsozialismus degradiert oder vertrieben wurden. Die Ausstellung „Würde-los!“ erzählt vom Leben der Betroffenen.

Ludwig Otto Blumenthal. Herausragender Mathematiker. Verdienter Professor der (damalig) TH Aachen. Mitglied der Gelehrtenakademie Leopoldina. Und dann? Aufgrund seiner jüdischen Eltern von Studierenden denunziert, von den Nationalsozialisten diskriminiert und entlassen. Er wurde deportiert und starb 1944 im Ghetto Theresienstadt. Otto Blumenthal steht an dieser Stelle stellvertretend für alle Wissenschaftler der Aachener Hochschule, die während der Zeit des Nationalsozialismus degradiert, verfolgt und vertrieben wurden und derer die RWTH am 80. Jahrestag von Kriegsende und Befreiung nicht nur gedachte, sondern bei denen man sich auch offiziell für das Unrecht entschuldigte.

Die RWTH bekennt sich zu ihrer Schuld, ihrer historischen Verantwortung“, erklärte Professor Dominik Groß, Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin sowie Antisemitismusbeauftragter der RWTH. Und Rektor Professor Ulrich Rüdiger betonte: „Es ist unsere Verpflichtung, die Erinnerung wachzuhalten und aus der Geschichte zu lernen. Lassen Sie uns gemeinsam daran erinnern, wie wichtig es ist, für Freiheit, Toleranz und Menschenrechte einzustehen. Möge diese Gedenkfeier uns alle dazu inspirieren, eine offene und gerechte Gesellschaft zu fördern, in der die Menschlichkeit im Mittelpunkt steht.“

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Der Nationalsozialismus hat Lücken hinterlassen: Diese symbolisierten verhüllte Stühle mit den Lebensdaten der entrechteten Wissenschaftler wie hier Professor Ludwig Otto Blumenthal. | Foto: Heike Lachmann

Es war ein bewegender Akt in Anwesenheit der extra aus Großbritannien angereisten Familie Blumenthal, des Enkels Professor Josef Pirlets und der Urenkelin von Professor Ludwig Strauss. Der Bauingenieur Josef Pirlet und der Literaturwissenschaftler Ludwig Strauss mussten wie auch Blumenthal in diesem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte die TH Aachen verlassen. „Ihre Anwesenheit ehrt uns sehr und ist ein bedeutendes Zeichen der Verbundenheit und der Versöhnung“, sprach Ulrich Rüdiger. Blumenthal, Pirlet, Strauss und viele mehr hätten Lücken hinterlassen, wie Historikerin Angelina Pils betonte, die bis heute nicht geschlossen werden konnten. Symbolisiert wurden diese Lücken bei der Gedenkfeier „Würde-los!“ durch verhüllte freie Studien mit den Lebensdaten der Entrechteten. Etwa: Prof. Dr. Ludwig Hopf 1884-1939.

All ihre Geschichten, die berührenden Schicksale aber auch die Depromotionen, also aberkannten wissenschaftlichen Leistungen wie die des Geologen Herbert Simons, wurden im Rahmen eines Seminars am Historischen Institut der RWTH Aachen aufgearbeitet. Nicht nur für die Gedenkfeier, die von einem Gruß Dr. Josef Schusters, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland sowie dem einordnenden Festvortrag von Professorin Margit Szöllösie-Janze von der Ludwig-Maximilians-Universität München bereichert wurde, sondern auch für eine Ausstellung mit Biografien und Einordnungen. Diese ist ab heute bis zum 30. Mai im Hörsaalzentrum C.A.R.L., Claßenstraße 11, zu sehen und wird anschließend an wechselnden Orten aufgebaut. Es sind Geschichten von Mut und Integrität, aber eben auch voller Schrecken und sie bieten mehr als einmal den Anlass, innezuhalten.

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Sie haben die Biografien aufgearbeitet: Professorin Elke Seefried, Professor Dominik Groß, Constanze Germershausen, Nicolò Wittke und Dr. des. Angelina Pils. | Foto: Heike Lachmann

Dabei hatte sich die RWTH lange schwer getan mit der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, wie Groß und Professorin Elke Seefried, Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit mit ihren Wissens- und Technikkulturen am Historischen Institut der RWTH offen wie selbstkritisch darstellten. „Der Weg unserer Hochschule zu einer Erinnerungskultur, die diesen Namen auch verdient hat, war lang“, erinnerte Dominik Groß beispielsweise an eine Gedenkfeier aus dem Jahr 1963 für den ebenfalls vertriebenen Theodore von Kármán. Geschichtsvergessen wurde dieser damals keineswegs als Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Verdrängung und Auslassung dominierten Jahrzehnte. Ein wirkungsvoller Wandel habe erst 1995 mit dem Skandal Schneider/Schwerte eingeleitet werden können. Damals wurde bekannt, dass Professor Hans Schwerte, Rektor der RWTH von 1970 bis 1973, eigentlich Hans Schneider hieß und unter diesem Namen als Hauptsturmführer eine NS-Größe war.

Seitdem hat eine kontinuierliche Aufarbeitung einzelner Themen der RWTH im Nationalsozialismus und auch ihres anschließenden Umgangs mit der NS-Vergangenheit der Hochschule begonnen. Der Impuls, sich mit den Depromotionen auseinanderzusetzen, und damit den Startpunkt für die Gedenkfeier zu setzen, kam übrigens aus der Studierendenschaft: Der damalige Maschinenbaustudent Carsten Schiffer gab den Anstoß und dass es die Studierendenschaft ist, die sich hier hartnäckig zeigte und weiterhin zeigt, hat durchaus Symbolcharakter. Denn auch das gehört zur Geschichte und ihrem Schrecken: Otto Blumenthal wurde einst von Studierenden denunziert.

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RWTH Rektor Professor Ulrich Rüdiger begrüßte Nachfahren von Professor Ludwig Otto Blumenthal zur Gedenkfeier. Auch Nachfahren der Professoren Josef Pirlet und Ludwig Strauss waren zu Gast. | Foto: Heike Lachman

Es macht uns bis heute fassungslos, dass viele Vertriebene von ihren eigenen Studierenden denunziert wurden“, berichtet Historikerin Dr. des. Angelina Pils, die mit Constanze Germershausen und Nicolò Wittke sowie wissenschaftlicher Beratung von Dr. Moritz Fischer dann die Ausstellung konzipierte und umsetzte. Die akademische Leitung des Projekts hatten die ProfessorInnen Groß und Seefried inne. Die Ausstellung ist das Ergebnis der Forschungsarbeit, die mit Akten und Dokumenten begann und sich schnell zur Rekonstruktion eines komplexen Netzes persönlicher Schicksale und systematischer Vertreibung entwickelte. Nach und nach wurden Wissenschaftler aufgrund ihrer Herkunft oder Haltung aus dem Lehr- und Forschungsbetrieb entfernt.

Dabei vollzogen die Professoren der TH eine „geschmeidige Anpassung“, wie Elke Seefried aufzeigte. Bis zur NS-Machtübernahme waren die meisten zurückhaltend und erklärten sich als „unpolitisch“, doch 1933 beantragten fast 40 Prozent der Professoren das Parteibuch der NSDAP, und in der Folge nutzte man die Möglichkeiten, rüstungsbezogene Forschungsaufträge zu erhalten. Gegen die Denunziationen habe sich auch kein nachhaltiger Protest aus der Professorenschaft geäußert, und so mussten sie gehen: Ludwig Otto Blumenthal und viele Kollegen. „Diese Ausstellung schafft Raum zur kritischen Reflexion und eine Grundlage für Wachsamkeit“, sagte Pils. „Die heutige Gedenkfeier und Ausstellungseröffnung ist ein wichtiger Schritt, um das Bewusstsein für diese schmerzliche Vergangenheit zu schärfen. Sie zeigt die Schicksale, die oft im Schatten der Geschichte verblieben sind, und würdigt die Leistungen jener Wissenschaftler, die trotz aller Widrigkeiten ihre Forschung und ihren Beitrag zur Wissenschaft geleistet haben“, ordnete Rektor Ulrich Rüdiger ein und versicherte: „Möge das Gedenken an unsere Vergangenheit uns stets daran erinnern, wie wertvoll unsere Freiheit und unsere Werte sind. Nie wieder ist hier und jetzt!