Waldemar Ritter im Gespräch: Die Ukraine, Russland , Europa und die Agonie einer „lupenreinen Demokratie“

Ritter: Und Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat nur Russland dagegen gestimmt. Russland weiß jetzt, wie die Völkergemeinschaft über den schweren Bruch des Völkerrechtes denkt. Was hier passiert ist, ist voriges  und vorvoriges Jahrhundert. Es ist das Unrecht des militärisch Stärkeren, das zudem seine Nachbarn bedroht.

K: Worum geht es?

R: Die Europäer wissen, dass Russland mit seinem Vorgehen die zentralen Grundelemente  der europäischen Friedensordnung missachtet. Alle Europäer machen sich Sorgen, dass der völkerrechtswidrige Versuch international anerkannte Grenzen – auch und gerade von Russland  anerkannter Grenzen und was die Krim betrifft mehrfach von Russland garantierter Grenzen in unserer europäischen Nachbarschaft zu verändern, die Büchse der Pandora öffnet mit Folgen die für die Welt und insbesondere Russland selbst nicht  durchdacht, aber zu befürchten sind.

K: In Deutschland, das der Entschließung zugestimmt hat, gibt es  Parteienvertreter und andere Leute, die man die Putinversteher nennt. Wie kommt das?

R: Verstehen ist eine Sache. Verständnis zu haben, also es billigen, aber eine ganz andere. Das tut ein Sammelsurium von Faschisten , Nationalsozialisten und Kommunisten, von Vertretern und Sympathisanten  der NPD, der Linkspartei und der AFD, das man bis zum Erbrechen im Internet besichtigen kann. Aber auch einige demokratisch Rechtskonservative in der SPD und in der CDU/ CSU haben mehr wohlfeile Entschuldigungen oder gar Rechtfertigungen für den Täter als das Opfer bereit. Auch die Friedensbewegung ist plötzlich verschollen. Allerdings gibt es eine solche Strömung auch in der Bevölkerung. Hier mischen sich eine von den Medien suggerierte Furcht vor einem allgemeinen Krieg, eine Tendenz des sich Heraushaltens und ein wachsender  Anti-Amerikanismus.

K: Was ist ihre Auffassung?

R: Ich teile die Kritik prominenter russischer Schriftsteller , Kulturschaffender und Bürgerrechtler, die in einem Protestbrief den Kurs des Kremlchefs Wladimir Putin im Ukraine-Konflikt als „brandgefährlich“ kritisieren. Unter Verstoß auf internationales Recht annektiere Russland, die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim, hieß es in dem Schreiben, das bereits am 14. März die kremlkritische Zeitung „Novaia Gazeta“ veröffentlichte. „Es werden die Prinzipien der europäischen Sicherheit und Stabilität verletzt“ so kritisieren die 89 Unterzeichner des Briefes. Russland steuere auf einen neuen Kalten Krieg mit unschätzbaren Folgen.

K: Viele Politiker und Analysten sagen: Die Machthaber im Kreml haben Angst und machen das aus geopolitisch und militärstrategischen Gründen. Und sie wollen durch nationalistische Politik wohl auch innenpolitisch Terrain gewinnen.

R: Das ist methodisch gesehen richtig. Aber nichts fürchtet Putin mehr als einen  Euromaidan auf dem Roten Platz in Moskau. Nicht nur durch die restriktiven Gesetze Putin III. ist die Opposition der Gefahr ausgesetzt als Vaterlandsverräter verfolgt zu werden. Putin weiß, dass der Maidan  auch dem russischen Brudervolk Zeichen gegeben hat. Im Gegensatz zu vielen Medien und Politikern im Westen weiß er natürlich, Kiew ist eine russischsprachige Stadt. Deshalb ist der Maidan so bedrohlich für ihn. Das ist die größte russischsprachige Bürgerrechtsbewegung der Welt.

K: Kann man von einem Brudervolk sprechen, das die Krim überfällt, besetzt und annektiert?

R. Das war nicht das Volk, das waren die herrschenden Potentaten und ihre Militärs, mit und ohne Schulterklappen. Russland und die Ukraine sind durchaus Brudervölker.

Nicht nur Gogol gehört beiden. Der russische Schriftsteller Michail Schischkin, seine Mutter ist Ukrainerin, sein Vater Russe, hat  in der Neuen Züricher Zeitung über die Agonie einer Diktatur geschrieben und über Russlands ukrainische Zukunft.

Ich lese ihnen einige Sätze daraus vor, über den Maidan und damit über die Lektion des „jüngeren Bruders“:

„Der  Maidan überraschte durch die Zivilcourage und den Mut der Leute, die“ für unsere und eure Freiheit“ auf die Straße gingen. Die gegenseitige Solidarität war augenfällig. Gefühle der Hochachtung und der Eifersucht kamen auf – die Ukrainer  können sich erheben und durchhalten.   Eine gewisse Herablassung gegenüber den Ukrainern und der ukrainischen Sprache war in Russland seit jeher verbreitet. Man schätzte die Lebensfreude, den Humor und die Selbstironie  des „jüngeren Bruders“. Doch er blieb immer der jüngere in der Familie, musste also dem älteren gehorchen, von ihm lernen, ihm nacheifern. Die letzten Monate indes haben den Russen ganz andere Ukrainer offenbart. Der „jüngere Bruder“ war plötzlich erwachsener als der ältere. Die Ukrainer haben es geschafft, ihre Verbrecherbande zu verjagen, wir noch nicht. Natürlich ist das beneidenswert. Der Maidan in Kiew, der Platz der Unabhängigkeit – von Russland  – ,wandelte sich  zum „Euromaidan“. Nicht der Hass auf Russland, sondern jener auf die eigene Regierung, die nach Herzenslust und unabhängig von der Sprache an der eigenen Bevölkerung verging, hat die Menschen auf die Straßen getrieben. Es war keine Bewegung in Richtung Gewalt, sondern hin zu einer zivilisierten Ordnung nach „Europa“. „Europa“ bedeutet für die Ukrainer nicht die real existierende EU mit ihren Problemen, sondern steht für den Mythos eine Lebens, das sich nicht nach den Grundsätzen Krimineller richtet, sondern nach den Gesetzen des Rechts. Europa ist ein Synonym für die Hoffnung auf ein Leben in einer zivilisierten Ukraine“.

Während Schischkin diese Zeilen schrieb rollte ein 18-jähriges rothaariges Mädchen auf der Manege vor dem Kreml ein Plakat aus: „Nein zum Krieg“ Ein Polizist mit einem Megaphon nähert sich ihr: „Verschwinden sie! Ihre Aktion ist nicht  bewilligt!“ Sie schreit zurück: „Euer Krieg ist nicht bewilligt!“

Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei schrieb der russische Dichter Aleksandr Galitsch: „Bürger! Unser Vaterland ist in Gefahr! Unsere Panzer rollen in ein fremdes Land“. Ist das rothaarige Mädchen nicht eine Patrioten? Oder sind  es diejenigen, die es verhaftet haben, „die im Parlament einäugig für den Krieg gestimmt haben, die verbrecherische Befehle erteilen und ausführen – sie mit all ihren Schlagstöcken und Panzern sind die Verräter.“

K: Kehren wir noch einmal zu den internationalen Aspekten und Fragestellungen zurück. Es wird immer wieder behauptet, Russland sei nach dem Ende des kalten Krieges zu gesichert worden, das Bündnis werde nicht nach Osten ausgedehnt. In dem Zusammenhang wird der frühere Außenminister Genscher genannt.

R: Das ist wie vieles andere primitiv unterschwellige Propaganda, die längst aufgedeckt ist,  sie gehört zu den Unwahrheiten, die für die Dummen bestimmt sind. In der vergangenen Woche  hat der erste und letzte freigewählte Außenminister der DDR, Markus Meckel, der bei den entscheidenden 2+4 Verträgen  mit dabei war noch einmal bestätigt, dass das nicht stimmt. Davor hatte schon der frühere Nato-General  Klaus Naumann gesagt: Genscher, der tatsächlich ein Gespräch  mit dem sowjetischen  Außenminister Schewardnadse geführt hat, war nicht befugt, für die Bundesregierung zu sprechen, das hätte nur der Kanzler machen können. Aber auch der Kanzler wäre nicht befugt gewesen, für die Nato zu sprechen, schon gar nicht über die Köpfe Dritter hinweg, das heißt Polen, Tschechin, und Ungarn. Vielleicht sollten die Russlandversteher bei uns, die ja bis in die Ränge ehemaliger Kanzler reichen, etwas mehr Polen-Versteher werden, bei denen die Alarmglocken klingeln, wenn Deutschland und Russland andeuten, sie wollten sich über ihre Köpfe hinweg einigen. Wer Verständnis für Russlands Vorgehen in der Ukraine äußert, missachtet die historischen Fakten.

K: Woran denken Sie?

R: Es gibt nur eins, worüber in diesem Zusammenhang zuerst nachgedacht werden muss und zwar im wörtlichen Sinn „nach-gedacht“ werden muss. Über den Hitler-Stalinpakt, dessen Inhalte und Folgen in Deutschland und Russland, besonders von Faschisten, Nationalsozialisten und Kommunisten möglichst verdrängt werden. Dem Hitler-Stalinpakt, vom 24. August 1939 folgte am 1. September der Überfall auf Polen, der den 2. Weltkrieg entfesselte. Er enthielt ein geheimes Zusatzprotokoll, das die Aufteilung Polens, zwischen dem Nazireich und der Sowjetunion in einem imperialistischen Krieg regelte. Auch die baltischen Staaten und Finnland wurden den jeweiligen Interessensphären zugeteilt.  Diesem Vertrag waren zudem monatelange Geheimverhandlungen voraus gegangen. Der darauf folgende  deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag, der wiederum geheime Zusätze enthielt wurde am 28. September  1939 abgeschlossen, nachdem die deutsche Wehrmacht das westliche Polen und die Rote Armee Ostpolen angegriffen und militärisch besetzt hatten.

K: Die Folgen des Hitler-Stalinpaktes?

R: Die ersten Folgen waren, die Entrechtung der Polen, die Ausschaltung ihrer Intelligenz,  die Errichtung der Konzentrationslager- und Vernichtungslager durch die Deutschen, wie Auschwitz , Sobibor und Treblinka , sowie Deportationen, Massenmorde durch die Sowjets, wie die Massaker von Katyn, Ostaszkow und Miednoje, oder die Massenmorde von Lemberg im Sommer 1941. Erst nach der mittelosteuropäischen Revolution, erst nach dem Fall der Mauer erklärte der Volksdeputiertenkongress der UDSSR durch ein Mehrheitsvotum am 24. Dezember 1989 den deutsch-sowjetischen Vertrag, den Hitler-Stalin-Pakt und seine geheimen Zusatzprotokolle ex tunc für nichtig, nachdem sie von der Sowjetunion 50 Jahre geleugnet wurden.

K: Was heißt das heute?

Im kollektiven Gedächtnis der Polen ist dies ebenso verankert, wie Stalins Holodomor mit über 5 Millionen Toten in der Ukraine. Wer über diese Völker und Staaten reden will kann nicht über sie hinweg reden, er muss mit ihnen reden. Und zwar zuerst und auf gleicher Augenhöhe, ohne den Versuch der Bevormundung. Wie in einigen unserer erbärmlichen Talkchows reden sie ohne Ukrainer, aber über sie als seien sie unmündige kleine Kinder  über deren Schicksal andere – Deutsche, Russen , Amerikaner – reden und am Ende entscheiden.

Der  Maidan war eine Revolution der Würde. Auch im Wissen, dass im Kampf  gegen die deutsche Wehrmacht, im Kampf gegen die deutschen Nationalsozialisten und Faschisten mehr Ukrainer  als Amerikaner, Franzosen und Russen gefallen sind. Aber die toten  Weißrussen, Juden und Ukrainer  wurden und werden als Russen gezählt. Das sei ein “Imperialismus mittels Märtyrertum“ heißt es richtigerweise in einem Aufsatz des Historikers Timothy Snyder, durch  die Vereinnahmung der Opfer werden stillschweigend auch deren Gebiete in Anspruch genommen. Der Faschismusvorwurf fällt auf jene Agitatoren zurück, die ihn gegenüber der Ukraine gebrauchen.

K: Ist der Phantomschmerz über das Verlorene für Putin nicht real?

R: Ich bin kein Psychiater! Es wird tatsächlich gesagt, wir müssten einsehen, dass Russland das Trauma seines Machtverlustes in Ost-Mitteleuropa nicht  verwinden könne. Aber hat man ihm denn Gebiete weggenommen, die ihm seit ewig gehörten? War es nicht vielmehr so, dass sich Gebiete selbst befreiten, die von Stalin erobert und ausgebeutet wurden, die also de facto russische Kolonien waren? Stellen wir uns einmal folgendes vor: Jemand stiehlt mir mein Auto, kommt aber nicht weit, weil der Tank leer ist und er in seiner Ungeschicklichkeit Diesel statt Benzin nachtankt. Dann kommt er am nächsten Tag wieder und klaut stattdessen mein Fahrrad. Muss ich das etwa gut heißen?

Müssten wir dann folgerichtig nicht auch den Briten, Holländern, Portugiesen, Spaniern und Franzosen ein Trauma zubilligen, weil sie nach dem zweiten Weltkrieg ihre Kolonialreiche verloren haben? Dürften die Engländer sich dann wenigstens Jamaika „wiederholen“?

K: Herr Dr. Ritter, In zwei Solidaritäts- Briefen – an Vitali Klitschko und an die Opposition  in der Ukraine haben sie zuerst am 10. Dezember zusammen mit prominenten Schriftstellern, Kulturschaffenden, Geisteswissenschaftlern und Bürgerrechtlern  unterschrieben : „Wir hoffen, dass auch Russland im Herzen Europas ankommen möge.“ Was bedeutet das für Sie?

R: Russland gehört zu Europa, nicht nur wegen des Kontinents. Die Putinisten haben jetzt vieles zerstört, vieles kaputt gemacht. Es wird sehr lange dauern bis neues Vertrauen und Strukturen wachsen können. Das wird ein langer, steiniger Fußweg werden. Aber man kann niemand zu seinem Glück zwingen. Putin muss im Interesse Russlands und Europas selbst zur Einsicht kommen. Die Kultur des russischen Volkes kann ihm dabei helfen. Wie die  Ukraine zeigt, ist es das Volk, das wie in der französischen Revolution für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kämpft. Es ist das Volk, dass für den Frieden kämpft. Es sind die Menschen in Odessa, in Charkow, Lemberg und Kiew, welche die Europa Hymne aus Beethovens 9.Symphonie, die Ode in ihrem ursprünglichen Text, an die Freiheit und Brüderlichkeit singen.

Russen und Ukrainer, Deutsche und alle Europäer sind uns selbst und der Welt eine friedliche Konfliktlösung schuldig.

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