Waldemar Ritter: Am Anfang war Maria

Waldemar Ritter © KABINETT

In den staten Tagen habe ich den ARD – Feiertags – Zweiteiler „Die Puppenspieler“ angesehen. Er beleuchtet den Übergang zwischen Mittelalter und beginnender Renaissance. Der renommierte Regisseur Rainer Kaufmann ist überzeugt , von einer bedeutenden Epoche zu erzählen, die auch noch „Ähnlichkeit mit der Gegenwart“ erkennen lässt. Es werden Themen angesprochen, die in unserer modernen Welt genauso aktuell sind wie damals auf der Schwelle vom Mittelalter zur Renaissance: religiöser Fanatismus, Volksverhetzung, Kapitalismus, die Verlogenheit von Macht und Geld, aber auch die Vorteile von Netzwerken und schneller Information.

Einige Tage vor dem Film bin ich mit meinen und anderen Gedanken zwei Jahrtausende zurück gegangen, in die Zeit des Kaisers Augustus, zu Maria, der berühmtesten Frau der Geschichte. Es ist die Darstellung des Lukasevangeliums (Lk 1.26 55) Es ist das Magnificat. dass mich schon in meiner Münchner Studentenzeit auch im Zusammenhang mit Dietrich Bonnhoeffer stark beeindruckte. Maria preist aufgrund ihres Glaubens Gott als den, der sich ihr und allen Geringen, Machtlosen und Hungernden zuwendet, um sie aufzurichten, dagegen die Mächtigen, Reichen und Hochmütigen von ihrem Thronen stürzt.

Die Frau die in der Synagoge und im Tempel nicht sprechen darf erhebt ihre Stimme und singt das Lied von der göttlichen Revolution – wörtlich in der Einheitsübersetzung der Bibel:

„Er zerstört, die im Herzen voll Hochmut sind. Er stürzt die Mächtigen vom Thron. Er erhöht die Erniedrigten. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen“

Die Frau, die nicht in der Synagoge oder im Tempel sprechen darf – Maria ist keine demütige Hausfrau, wie sie Jahrhunderte lang dargestellt und auf ihre Jungfräulichkeit verkürzt wird. Maria stellt die Hierarchien infrage, auch die zwischen Männern und Frauen. „Magnificat“ ist das revolutionärste aller Lieder zum Advent. Es geht nicht um religiösen Höhenrausch, sondern um irdische und fundamentale Herrschaftskritik. Maria ist die Kritikerin von ungerechten Verhältnissen. Das war den theologischen Deutern zu wild. Sie wurde und wird unter Blumen begraben und vom Kerzenrauch verrußt. Aber ihre Texte lassen sich nicht zähmen. Nicht einmal,wenn sie als Patrona Bavariae gefeiert wird.

Marias Magnificat kann es mit Radikalität und Wucht mit dem jungen Karl Marx aufnehmen, der in der „Deutschen Ideologie“ verlangte, den „kategorischen Imperativ alle Verhältnisse um zu werfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes , geknechtetes,ein verlassenes , ein verächtliches Wesen ist.“Was für Marx Vollendung seiner Kritik an der Religion ist, das ist für Maria der Anfang des Glaubens.

Karl Marx war selten so populär als jetzt, zu seinem 200. Geburtstag in diesem Jahr. Das liegt unter anderem auch daran, dass der Philosoph zugleich ein großer Schriftsteller war. Und wie der Turbokapitalismus Karl Marx zu neuer Popularität verhilft. Sogar ein neuer ICE hat sich durchgesetzt gegen Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Und das neueste Sedativum für die Massen: Mein Freund Mario Adorf als Karl Marx im ZDF. Das kann nur gut gehen.

Maria war und ist natürlich weit populärer als Karl Marx. Aber beide werden auch und gerade von ihren mächtigen Verfechtern in Zentrifugen gestellt, die im besten Fall zur Instrumentalisierung ihrer eigenen , vor allem kapitalistischen Interessen dienen, die zu Maria und Marx passen wie ein Sattel auf die Kuh.

Das ganze pornografische kapitalistische Elend der Gegenwart schlummert in einem einzigen Satz von Karl Marx: „Die Bourgeoisie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst.“

Marx nannte als Ideal einer Gesellschaft , in der es möglich wäre, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“

Natürlich ist es leichter zu zitieren als zu verstehen, zumal heute sieben mal mehr Menschen auf unserer Erde sind als im 19. Jahrhundert.

Marx liebte die Kritik an der Kritik. Ein Großteil seiner Arbeit bestand aus der Kritik an anderen Linken. Vor allem weil er als Deutscher den deutschen Hang zu Dogmatismus, Systembastelei und Begriffshuberei teilte.

Deshalb sollten wir heute fragen: Warum selbst in China, wo das Proletariat nun schon seit über 60 Jahren an der Macht ist, die Unterschiede zwischen arm und reich gleichzeitig größer sind als in jedem anderen Land der Welt, mit Ausnahme vielleicht der USA. Die Wirklichkeit ist, dass im Gegensatz zu den Theorien von Karl Marx die kommunistische Einparteiendiktatur offensichtlich kein Widerspruch dazu ist, dass China inzwischen das kapitalistischste Land der Welt geworden ist.

Trotzdem: Kühne Hypothesen aufstellen ist ein Zeichen der Güte. Zwischen der Güte einer Theorie , das hat der große Wissenschaftstheoretiker Karl Popper in seiner „Logik der Forschung“ heraus gearbeitet. Aber nur dann, wenn die Forschenden dann auch ernsthaft versuchen, ihre eigenen kühnen Thesen zu falsifizieren, also zu widerlegen, um sie so zu überprüfen. Genau dieses Bemühen sehe ich in vielen Bereichen bestimmter marxscher Theoreme nicht.

Ich glaube, dass der jetzige Papst Maria und Marx sehr nahe ist. Der Mann, der sich nach dem heiligen der Armen nennt, hat das Amt mit seiner demonstrativ bescheidenen Lebensführung revolutioniert. Vor Ostern wäscht Franziskus wie immer den Armen die Füße und vor Weihnachten der Kurie den Kopf.

Der Kampf zwischen Franziskus und konservativen Kardinälen wird immer härter. 2018 könnte es zum großen Krach kommen. Es ist schwierig die Weltkirche aus jener Erstarrung und Selbstbezogenheit zu holen, die Kardinal Borgoglio unmittelbar vor seiner Wahl zum Papst skizzierte,

Franziskus hat mit seinem Schreiben über die „Freude des Evangeliums“ oder die Umweltenzyklika „Laudato si“ neue Türen zur Welt geöffnet und zum Thema Ehe, Familie und Sexualität eine Debatte ermöglicht, die lange tabu war in der Kirche. Das alles hat dem Papst weltweit Sympathie auch übers Kirchenvolk hinaus eingebracht. Aber viele Reformen und Kardinäle sind stecken geblieben. Die revolutionäre Maria und der junge Marx könnten weiter helfen.