Halbe-halbe mit dem Staat? Halbteilungsgrundsatz auf dem Prüfstand

Prof.Dr.C.Juhn | Bildquelle © JUHN Partner GmbH

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1995 formulierte Prof. Dr. Paul Kirchhof in seiner Funktion als Richter am Bundesverfassungsgericht in einer Anmerkung zum Urteil (2 BvL 37/91, NJW 1995, 2615) über die Verfassungskonformität der Vermögensteuer den sogenannten Halbteilungsgrundsatz. Der besagt: Wenn eine Bürgerin oder ein Bürger 100 Euro verdient, darf das Finanzamt maximal die Hälfte abschöpfen. Die andere Hälfte muss zum Leben verbleiben. Ein neueres Urteil aus dem Jahr 2006 stellt diese Entscheidung jedoch infrage. Der 50:50-Grundsatz stehe so nicht im Grundgesetz, demnach scheint es sehr wohl möglich, eine Einkommensteuer von 60, 80 oder sogar 90 Prozent einzuführen. Einzige höchstrichterliche Einschränkung: Bürger dürfen nicht mit der Steuerlast erdrosselt werden.

Ein Obiter Dictum mit Folgen

In seiner Entstehung ist der sogenannte Halbteilungsgrundsatz eng an die höchstrichterliche Auseinandersetzung mit der Vermögensteuer gekoppelt – und zwar in einem konkreten Fall, bei dem sich Steuerpflichtige, die Vermögensteuer etwa auf Unternehmenswerte zahlen sollten, gegenüber anderen benachteiligt sahen, die Abgaben auf Immobilienwerte abführen mussten. Mit Verweis auf Artikel 3 GG, den Gleichbehandlungsgrundsatz, urteilte das BVerfG 1995 sehr differenziert und stellte fest, dass die Vermögensteuer hinsichtlich der Bewertung von Immobilien verfassungswidrig ist. Grund dafür? Ein veraltetes Verfahren zur Immobilienbewertung, wodurch eine Bemessungsgrundlage zustande kam, die zu einer Bewertung führte, die deutlich unter dem Marktwert lag.

Entsprechend wurden Aktien, Unternehmensbeteiligungen und andere Vermögenswerte mit ungleich höheren Abgaben belegt, womit Immobilieninvestoren einen Vorteil bei der Vermögensteuer genießen konnten. An dieser Stelle wäre die Legislative in der Pflicht gewesen, das Vermögensteuergesetz an die Rechtsprechung des BVerfG anzupassen – entweder durch eine höhere Besteuerung des Grundbesitzes oder durch eine Neubemessung aller anderen Vermögenswerte. Beides erschien der damaligen Bundesregierung – dem Kabinett Kohl V – aber unter anderem aufgrund des Einkommensteuer-Spitzensatzes plus Solidaritätszuschlag nicht opportun.

Außerdem kam die Vermögensteuer allein den Bundesländern zu, nicht dem Bund. Damals war aber eine Mehrheit der Bundesländer SPD-geführt. Die Kohl-Administration hatte also keinen Grund, dem politischen Gegner ein Geschenk zu machen. Da war die Alternative, das Aufgeben der Vermögensteuer, deutlich reizvoller. Die CDU konnte also politisch davon profitieren, dass die SPD-Länderregierungen nun weniger Geld einsetzen konnten, um ihre Wahlversprechen umzusetzen. Umgekehrt war es aber auch ein Geschenk an die eigene Kernwählerschaft, die insbesondere vermögende Personen umfasste.

Entsprechend wurde 1997 das Vermögensteuergesetz verfassungswidrig und seitdem nicht mehr angewendet, was in den letzten 30 Jahren vor allem den Bundesländern einen deutlichen Einbruch bei ihren Finanzen bescherte – bisher 380 Milliarden Euro an Mindereinnahmen. Bei dem Urteil zur Vermögensteuer allein blieb es 1995 nicht. Prof. Dr. Paul Kirchhof schien die Auslegung des Grundgesetzes bei der Urteilsbegründung zu kurz gegriffen. Entsprechend verfasste er ein sogenanntes Obiter Dictum, also eine Äußerung innerhalb eines Urteils, zur Frage nach dem Schutz vor übermäßiger Besteuerung – eine Maxime, die in den Leitlinien veröffentlicht wurde und als Halbteilungsgrundsatz in die Geschichte des deutschen Steuerrechts einging.

Dabei lieferte ihm Artikel 14 GG mit seinem Eigentumsschutz ein starkes Argument, die Abgaben auf Einkommen auf maximal 50 Prozent zu beschränken. Im Verhältnis zwischen Staat und Steuerpflichtigem kommt Eigentum besonderer Schutz zu, damit eine mehr oder minder willkürliche Enteignung ausgeschlossen ist.

Ein Grundsatz gerät ins Wanken

Etwa zehn Jahre lang hielt sich das 50:50-Prinzip, bis 2006 andere Richter am BVerfG den Halbteilungsgrundsatz in einem neuen Urteil revidierten. In der Frage nach einer Übermaßbesteuerung, wenn mehrere Steuerarten parallel erhoben werden, entschied das oberste deutsche Gericht in dem konkreten Fall eines Personenunternehmens, dass mit Einkommen- und Gewerbesteuer zusammen Abgaben in Höhe von etwa 60 Prozent an das Finanzamt abgeführt werden sollten. Entgegen aller Erwartungen hieß es in der Urteilsbegründung: Aus dem Grundgesetz lasse sich eine Beschränkung der Besteuerung auf 50 Prozent nicht 1:1 ableiten.

Es schützt lediglich das persönliche Eigentum und somit auch das Einkommen oder einen Vermögenszuwachs. Gleichzeitig hat der Staat aber das Recht, darauf Steuern zu erheben. Damit befanden die Richter, dass die Besteuerung mit 60 Prozent des Einkommens im vorliegenden Fall rechtens war. Schließlich verblieben den Klägern noch 40 Prozent, was nach Ansicht der Richter ausreiche, um keine Enteignung durch Besteuerung darzustellen. Eine neue Obergrenze – 70, 80 oder 90 Prozent – schreibt das BVerfG nicht vor, verwendet aber die auslegungsfähige Formulierung, dass Bürger nicht von der Steuerlast erdrosselt werden dürfen.

Wie ein Blick auf die aktuellen Wahlprogramme zeigt, fordern manche Parteien den Spitzensteuersatz sogar auf bis zu 53 Prozent zu heben. Wenn hier noch eine Gewerbesteuer von durchschnittlich 15 Prozent aufgeschlagen wird, verschiebt sich die Grenze schon auf fast 70 Prozent. Allerdings muss das vor allem bei höheren Einkommen noch nicht unbedingt eine Lage der Erdrosselung darstellen. Gleichzeitig wird aber auch die Wegzugsteuer verschärft bzw. nun auch auf Investmentfonds eingeführt, was nicht nur Personen mit großem Vermögen betrifft, sondern zunehmend auch kleinere Anleger.

50-Prozent-Marke knacken? Das sind die Folgen

Steigt die Einkommensteuer auf über 50 Prozent, stellen sich nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit den Reformen der Wegzugsteuer vielfältige juristische, steuerrechtliche und wirtschaftliche Fragen, die miteinander verknüpft betrachtet werden müssen. Rechtlich ist insbesondere der Aspekt der Verhältnismäßigkeit zentral. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt betont, dass staatliche Eingriffe – auch in Form von Steuererhebungen – so gestaltet sein müssen, dass sie nicht die wirtschaftliche Existenz der Bürger gefährden oder den Leistungsanreiz unverhältnismäßig mindern (vgl. diverse BVerfG-Urteile zu Zumutbarkeitsfragen).

Hierbei spielen der bereits erwähnte Eigentumsschutz (Art. 14 GG) sowie der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) eine wesentliche Rolle. Zudem ist der Vertrauensschutz zu beachten, der sicherstellt, dass sich Steuerpflichtige auf bestehende Regelungen verlassen können. Abrupte Änderungen ohne angemessene Übergangsfristen können zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen und schlimmstenfalls den Rechtsfrieden gefährden.

Steuerrechtlich muss das Prinzip der progressiven Besteuerung, das der sozialen Gerechtigkeit dient, auch im internationalen Kontext bewertet werden. Eine Abgabenlast von über 50 Prozent darf nicht dazu führen, dass Investitionsanreize hierzulande verloren gehen oder es zu einer verstärkten Steuerflucht kommt, was nicht zuletzt auch in Verbindung mit der aktuellen Reform der Wegzugsteuer steht. Anders als bisher umfasst diese Besteuerung nicht nur im Privatvermögen gehaltene Anteile an Kapitalgesellschaften sowie Genossenschaftsanteile ab einer Beteiligungshöhe von 1 Prozent. Künftig gilt: Halten Steuerpflichtige Anteile an Investmentfonds im Privatvermögen, sollen bei einem Wegzug aus Deutschland die in dem Investmentanteil ruhenden stillen Reserven Abgaben unterliegen.

Voraussetzung dafür ist, dass der Steuerpflichtige innerhalb der letzten 5 Jahre vor dem Wegzug mindestens 1 Prozent der ausgegebenen Investmentanteile gehalten hat oder die Anschaffungskosten für den relevanten Anteil mindestens 500.000 Euro betragen. Zwar möchte der Gesetzgeber so Steuervermeidung verhindern und versteckte Unternehmenswerte besteuern, allerdings gehen die neuen Regeln über dieses Ziel hinaus und betreffen in der Praxis auch viele Fälle, die nicht missbräuchlich sind. Besonders problematisch ist die Verknüpfung mit den Anschaffungskosten, wobei auch Zweifel bestehen, ob die neuen Vorschriften mit EU-Recht vereinbar sind.

Und auch aus wirtschaftlicher Sicht hat eine hohe Steuerbelastung potenziell weitreichende Konsequenzen. Einerseits können sie den Anreiz zur Reinvestition von Gewinnen in innovative Projekte schwächen, was langfristig zu einer verminderten Wettbewerbsfähigkeit und zu einem Rückgang des Wirtschaftswachstums führen kann. Studien des ifo Instituts sowie Berichte der OECD zeigen, dass hohe Steuersätze häufig mit einer Reduktion von Investitionen und einer Abschwächung der wirtschaftlichen Dynamik einhergehen. Andererseits kann eine übermäßig hohe Steuerlast qualifizierte Fachkräfte und unternehmerisch tätige Personen dazu veranlassen, ihren Wohnsitz oder ihre wirtschaftlichen Aktivitäten ins Ausland zu verlagern. Diese Abwanderung von Humankapital kann nicht nur zu einem Fachkräftemangel führen, sondern auch die Standortattraktivität Deutschlands im internationalen Steuerwettbewerb beeinträchtigen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl die Abkehr vom Halbteilungsgrundsatz als auch die Änderungen bei der Wegzugsbesteuerung spürbare Folgen für Bürger und Unternehmen haben. Hohe Steuerlasten müssen weiterhin rechtlich überprüft werden können. Gleichzeitig sind gezielte Reformen nötig, um wirtschaftliches Wachstum zu fördern und Investitionen von Hindernissen zu befreien. Ziel sollte es dabei sein, einen Ausgleich zu finden, der einerseits fiskalisch notwendige Einnahmen generiert und dabei andererseits Investitionsanreize sowie den Erhalt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit sicherstellt. Neben der Prüfung der Verhältnismäßigkeit und des Grundrechtsschutzes müssen auch die internationalen steuerrechtlichen Rahmenbedingungen und die wirtschaftlichen Auswirkungen in den Blick genommen werden.

Weitere Informationen (Video) unter: Über 50% Einkommensteuer & 1% Vermögensteuer verfassungswidrig? (BVerfG: Halbteilungsgrundsatz)

Zu den Autoren:

Prof. Dr. Christoph Juhn ist Professor für Steuerrecht, Steuerberater und besitzt einen Master of Laws. Seine Schwerpunkte in der Gestaltungsberatung liegen auf Umwandlungen und Umstrukturierungen, Unternehmen- und Konzernsteuerrecht, internationalem Steuerrecht, Unternehmenstransaktionen (M&A), Beratung für Berater sowie der laufenden Steuerberatung. Nachdem er 2011 seinen LL.M. an der Universität zu Köln erwarb, wurde er 2013 zum Steuerberater bestellt. Im Jahr 2020 promovierte er zum Dr. jur. im internationalen Unternehmen- & Umwandlungssteuerrecht und wurde noch im selben Jahr zum Professor für Steuerrecht an der FOM Hochschule Bonn berufen. Parallel dazu gründete er – nach Anstellungen in zwei Steuerberatungsgesellschaften – im Jahr 2015 die JUHN Partner GmbH und 2017 die JUHN BESAU GmbH. Außerdem betreibt der Steuerprofi unter @juhnsteuerberater einen erfolgreichen YouTube-Kanal.

Jan Frederik Jarosch | Juhn Partner Gmbh
Jan-Frederik Jarosch | JUHN Partner GmbH

Jan-Frederik Jarosch ist Rechtsanwalt bei JUHN Partner am Standort Düsseldorf und bringt hier seine langjährige Erfahrung im Steuerrecht ein. Zuvor war er von 2021 bis 2024 u. a. für das Finanzministerium Nordrhein-Westfalen tätig und übernahm davor als Partner bei RGJ Rund – Gluth – Jarosch & Partner mbB mehr als ein Jahrzehnt Verantwortung.

Kurzprofil:

JUHN Partner ist eine Kanzlei mit Standorten in Bonn, Köln, Düsseldorf, Frankfurt am Main und Dubai, die sich besonders auf die Steuerberatung von Kapital- und Personengesellschaften spezialisiert hat. Ihr Ziel: steueroptimierte Gesamtlösungen für Unternehmen, Gesellschafter und Geschäftsführer. Dazu betreut ein interdisziplinäres 100-köpfiges Team rund um den Gründer, geschäftsführenden Partner und Professor für Steuerrecht an der FOM Hochschule, Prof. Dr. Christoph Juhn, Mandanten sowohl bei der Steuergestaltung als auch in der laufenden Beratung. Mit ihrem kaufmännischen und juristischen Wissen prüfen die Experten nicht nur die Steuereffizienz bestehender Unternehmensstrukturen und schaffen bei Bedarf maßgeschneidert optimierte Lösungen, sondern stehen im Rahmen langfristiger Partnerschaften für sämtliche nationalen oder internationalen Steuerfragen zur Verfügung. Dabei begleiten sie Organisationen sowie Anteilseigner etwa bei Umwandlungsvorgängen oder Unternehmensverkäufen, erstellen Jahresabschlüsse und Steuererklärungen oder übernehmen die monatliche Finanz- und Lohnbuchhaltung.