Waldemar Ritter – Europa liegt im Auge des Corona-Sturms

Waldemar Ritter © Vita

Grundrecht auf Hoffnung

Es ist Frühlingsbeginn. Ich melde mich aus der Vergangenheit zurück. Das, was ich hier schreibe, wird in fünf Tagen sichtbar sein, also im Paläozoikum der neuen Zeit, notiert die Schriftstellerin Kathrin Rögggla. Die Halbwertzeit von Neuigkeiten liegt bei etwa sechs Stunden. Danach sind die Dinge, die wir aufgeregt phänomenologisch beschreiben, veraltet. Ich komme also nicht durch mit der Gegenwart der Lesenden, bin irgendwie in der Vorzeit Zuhause, aus der ich wie hinter dicken Glasscheiben winken kann.

Steht Trostprosa und Sinnstiftung der Erkenntnis eher im Weg, um die es jetzt geht. Die man jetzt einfach aushalten muss.
Queen Elisabeth hat eine seltene zutiefst persönliche Ansprache an die Menschen in Großbritannien und im gesamten Commonwealth gerichtet. Ein nüchterner Auftritt. Sie sprach von einem Bruch im Leben ihres Landes: Ein Bruch der einigen Leid gebracht hat, vielen finanzielle Schwierigkeiten und enorme Veränderungen im alltäglichen Leben von uns allen. Die Queen und auch ich waren Kriegskinder Sie erinnerte an ihre erste Radioansprache im Jahr 1940. Als 14-jährige richtete sie damals zusammen, mit ihrer jüngeren Schwester Margret eine Radiobotschaft an Kinder, die wegen Luftangriffen von den Städten aufs Land gebracht wurden. Auch damals sind Familien in England und in Deutschland wegen der Bombardements voneinander getrennt worden.

Es geht jedoch nicht nur um Großbritannien oder Deutschland. Europa ist in kürzester Zeit das weltweite Zentrum der Pandemie geworden. Europa liegt im Auge des Covid-19 Sturms. Während Europa heute über der Marke von einer Million bestätigten Infektionen mit dem Virus Sars-CoV-2 steht, gibt es positive Anzeichen aus einer Reihe von stark betroffenen Ländern, darunter sind Spanien, Italien, Deutschland und die Schweiz. Der Lockdown war in Österreich, Tschechin und Dänemark vor Deutschland und ersten Lockerungen sind es dort auch.

Papst Franziskus hat wegen der Corona-Pandemie in einem historischen Schritt den Segen „Urbi et Orbi“ gespendet. Vor dem menschenleeren Petersplatz rief der 83-Jährige die Menschen zu mehr Zusammenarbeit in der Krise auf. Für die Zeremonie wurde ein Pestkreuz geholt. Es war während der Pest 1522 durch Rom getragen worden. Franziskus erinnerte die Menschen an ihre Verletzlichkeit: Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. Er macht sichtbar, wie wir die Dinge vernachlässigt und aufgegeben haben, die unser Leben und unsere Gemeinschaft nähren, erhalten und stark machen. Der Sturm entlarvt all unsere Vorhaben, was die Seele unserer Völker ernährt hat, „wegzupacken“ und zu vergessen; all die Betäubungsversuche mit scheinbar „heilbringenden“ Angewohnheiten, die jedoch nicht in der Lage sind, sich auf unsere Wurzeln zu berufen und die Erinnerung unserer älteren Generation wachzurufen, und uns der Immunität berauben, die notwendig ist, um den Schwierigkeiten zu trotzen.

Es ist die Zeit unseres Urteils; die Zeit zu entscheiden, was wirklich zählt und was vergänglich ist, die Zeit, das Notwendige von dem zu unterscheiden, was nicht notwendig ist. Es ist die Zeit, den Kurs des Lebens wieder neu auf die Mitmenschen zu richten. Den Mut zu finden, Räume zu öffnen, in denen sich alle berufen fühlen und neue Formen der Gastfreundschaft, Brüderlichkeit und Solidarität zuzulassen.

Solidarität gilt auch in Europa.
Es geht jetzt viel um die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, vor allem innerhalb der Währungsunion. Hier steht die Europäische Union vermutlich vor der größten Bewährungsprobe seit ihrer Gründung. Deutschland darf es nicht gleichgültig sein, wie es in den Ländern in Europa weitergeht, die schon vor der Corona-Krise in einer schwierigen Lage waren. Wir brauchen stärkere gemeinsame Anstrengungen gegen die Wirtschaftskrise. Es geht um mindestens eine Billion Euro.

Politik und Bürger sind nicht nur in Deutschland im Ausnahmezustand. Die Beschlüsse des Bundestages vom 25. März hatten den Zweck gehabt, den Bürgern und Betrieben etwas Zeit zu verschaffen. Aber die wenige Zeit, die der Staat der Gesellschaft und der Wirtschaft trotz gewaltiger Summen, die mobilisiert worden sind, erkaufen kann, läuft bald ab. Bis dahin sind medizinische Szenarien und politische Abwägungen her.
Die Corona-Pandemie abverlangt allen in den Familien, im Gesundheitssystem, am Arbeitsplatz, in der Wirtschaft und in unserer sozialen Gemeinschaft „wahnsinnig“ viel ab. Wir erleben tiefe Einschnitte in unser aller Freiheits- und Bürgerrechte, und eine Erosion des Rechtsstaates, und unsere Lebensgewohnheiten verändern sich massiv. Der Staat sollte weniger verbieten, sondern ermöglichen. Statt pauschaler Verbote braucht es angemessene Auflagen. Ob Mobilität oder familiäre Zusammenhänge: die Corona-Pandemie mach die Gefahren des globalisierten Lebensstils der Industrieländer deutlich.

Nach den Virologen sind jetzt auch andere Wissenschaften gefragt, wenn es darum geht den Lockdown und Lockerung gegeneinander abzuwägen. Die Leopoldina ist dafür nur ein Beispiel: Das Leben ist nicht ohne Risiken. Es sind nicht nur die medizinischen Dimensionen, es sind die kulturellen, die sozialen und wirtschaftlichen Dimensionen, die es bei den Entscheidungsfindungen zu beachten gilt.

In der Demokratie gibt es keine geistige Quarantäne. Einschränkungen von Grundrechten müssen debattiert und immer wieder neu begründet werden. Das Parlament muss handlungsfähig sein. Eine Verfassungsdebatte ist gerade im Ausnahmezustand nötig.

Der deutsche Ethikrat hat schon am 7. April die Politik ermahnt, mehr abzuwägen: die Gründe für Kontaktverbote gegen die schweren Folgen für viele Bürger. Es ist nie zu früh für eine öffentliche Diskussion. Wenn es immer wieder heißt, dass Lockerungen aufgeschoben werden müssen, bedroht das, die weiterhin bewundernswert hohen Zustimmungsraten. Die Menschen brauchen Hoffnungsbilder. Wir brauchen die öffentliche Diskussion über Öffnungsperspektiven.

Es muss ständig überprüft werden, ob die Maßnehmen für alle oder einzelne Gruppen verhältnismäßig sind. Einer weiterhin notwendigen entscheidungstarken Politik schadet es nicht zuzuhören, zu beteiligen und auch die Grenzen der eigenen Kompetenz anzuerkennen. Das stärkt vielmehr ihre Autorität. Genau deshalb ist die Corona-Krise, die Stunde der demokratisch legitimierten Politik.

Es war ein anderes Osterfest – darin waren sich Kirche, Wissenschaft und Politik einig. Doch auch darin, dass gerade in schwierigen Zeiten wie der Corona-Krise die Hoffnung und der Zusammenhalt nicht verloren gehen dürfen. Ausgerechnet an Ostern, dem Fest der Auferstehung, wenn Christen weltweit den Sieg des Lebens über den Tod feiern müssen wir uns einschränken, damit Krankheit und Tod nicht über uns kommen, sagte Bundespräsident Steinmeier: “Papst Franziskus sagt es gibt Hoffnung in dunkelster Stunde“. Franziskus mahnte, dass Hoffnung etwas anderes ist als „bloßer Optimismus“. Sie ist mehr als Schulter klopfen – auch mehr als das positive „Tutto andra`bene“ vieler Italiener in der Corona-Krise. Wir erlangen ein Grundrecht, das uns nicht genommen wird: das Recht auf Hoffnung, eine lebendige Hoffnung. Wir können das Leben nicht einfrieren.

In Deutschland zeichnet sich aktuell eine leichte Entspannung in der Corona-Krise ab. Der Ausbruch ist Stand heute wieder beherrschbar und beherrschbarer geworden, sagt der Bundesgesundheitsminister. Mehr als je zuvor gilt dieser Tage das Prinzip „Trial and Error“. Die Bundesregierung fährt auf Sicht, und die Deutschen sind mit großer Mehrheit weiterhin bereit mitzufahren.

Wie es jetzt weitergeht, wann und wie die Einschränkungen gelockert werden können, darüber entscheiden nicht allein Politiker, Wissenschaftler und Experten, sondern auch wir alle, Tag für Tag, Schritt um Schritt. Sie sollen alle 14 Tage von der Bundesregierung zusammen mit den Ministerpräsidenten der Länder überprüft werden. Der Lockdown wird in Deutschland ab heute vorsichtig geöffnet, dennoch bleibt die Lage fragil. Trotzdem sollte die Bundesregierung nachsteuern.In dieser Krise brauchen wir noch viel Geduld, Kreativität und eine neue Solidarität.

Wir müssen lernen, mit der Epidemie neu zu leben und vorsichtig zu sein, bis es einen Impfstoff gibt. Bill Gates meint bis 2021. Niemand kann heute seriös sagen, was in drei Monaten, in sechs Monaten oder neun Monaten möglich sein wird. Gegen unsere Natur Abstand halten, Hygiene und Schutz werden lange Regel und Maßstab unseres Alltags bleiben. Die sind im Kampf gegen die Corona- Pandemie der Schlüssel zum Erfolg. Ohne lebendige Hoffnung geht das nicht. Die Welt wird danach eine andere sein.