Europa: Ihr seid das Volk! Wenn alle wählen, gewinnen auch alle

Waldemar Ritter im Interview mit Elke Dagmar Schneider © Kabinett

Waldemar Ritter

Das KABINETT-Interview mit Elke Dagmar Schneider vom 01. März 2019

 

K: Herr Dr. Ritter, alle sprechen über Krisen in Europa. Wie können wir das ändern?

R: Natürlich müssen wir über Krisen reden. „Die Welt ist aus den Fugen geraten“, sagte der Bundespräsident. Wir müssen Europa zusammenhalten, und wir müssen wissen, wofür wir es tun! Wir dürfen vor lauter Krisen-Gestrüpp den europäischen Wald nicht aus den Augen verlieren.

500 Millionen Menschen, die 24 Sprachen und Hunderte Dialekte sprechen, in 28 Ländern leben, 19 davon in einem Währungsraum, alle vereint in einer Europäischen Union – das ist eine der größten politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Errungenschaften der Moderne. In einer kritischen Zeitenwende sollten wir uns vor Augen führen, was wir in Europa erreicht haben. Alle 28 Mitgliedstaaten sind Demokratien.

Wir erleben die längste Epoche ohne Krieg in West- und Mitteleuropa, die es je gegeben hat. Mehr denn je brauchen wir europäische Einheit in Vielfalt. Deutschland ist ein Kulturland in Europa. Deutschland und Europa sind zwei Seiten derselben Medaille. Wir brauchen ein starkes Deutschland und eine starke EU. Gerade jetzt stellen viele Staaten nationale Interessen voran. Wir stehen also vor der Frage, wie wir Europa wieder handlungsfähig machen können.

K; Ist Europa nicht in Minimalkompromissen steckengeblieben?

Das Wichtigste ist der Blick nach vorn. Egal, ob Großbritannien in der EU verbleibt, so wie es jetzt ist, kann und sollte es nicht weitergehen. Europa ist von christlichen Traditionen und den Freiheitswerten der Aufklärung geprägt. Die EU muss sich auf dem Fundament europäischer Ideengeschichte und europäischer Kultur reformieren und geschlossener handeln.

Solidarität ist gefragt angesichts der Ungleichheit der Lebensverhältnisse, die größer ist als in den USA. Das darf nicht auf eine unbegrenzte Schuldenhaftung hinauslaufen, die bei manchen Regierungen zu weiterer Undiszipliniertheit bei den Ausgaben führen würde. Doch im Prinzip kommen wir nicht darum herum, notleidenden Nationen unter die Arme zu greifen. Hier geht es insbesondere um die Jugendarbeitslosigkeit. Das wird Geld kosten. Doch wir stärken so nicht nur Europa, sondern auch unseren Export also auch unsere Arbeitsplätze.

Es ist nicht zu akzeptieren, dass in zentralen Fragen der Langsamste alles blockieren kann. Es ist nicht zu akzeptieren, dass das Veto eines Staats alle anderen blockiert. Wir brauchen ein System qualifizierter Mehrheitsentscheidungen. Europa muss über Minimalkompromisse hinaus wieder in vertrauensvollem Miteinander auf gleicher Augenhöhe an einem Strang ziehen.

K: Was sollte in den nächsten Jahren unternommen werden?

Da hat sich vieles aufgestaut. Einen wichtigen Punkt hat EU-Kommissar Oettinger angesprochen: Wir Europäer leben „in einem Kampf der Systeme“. Freiheit und Demokratie mit Gewaltenteilung, unabhängigen Gerichten, Grundfreiheiten und sozialer Marktwirtschaft stehen unter Druck. Dagegen müssen Europäer zusammen stehen, gegen Islamismus, gegen Autokraten in Ankara und Moskau. Und auch aus dem Weißen Haus twittern Autokraten rund um die Uhr.

Zuerst muss den Menschen gesagt werden, wie wichtig ein einiges Europa ist. Nur vereint kann Europa sich im weltweiten wirtschaftlichen Machtkampf behaupten, nur gemeinsam kann es russischen Hegemonialansprüchen widerstehen. Sonst balgen sich in 30 oder 40 Jahren Russen, Chinesen und Amerikaner um die zersplitterten Überreste Europas.

Europa war, ist und bleibt zuallererst eine Friedensunion. Der EU-Beitritt von bis zu sechs Ländern des westlichen Balkans wird derzeit als „Tabu“ behandelt, ist aber die logische Schlussfolgerung mit Blick auf Serbien, Albanien, Nord-Mazedonien, Montenegro, den Kosovo und Bosnien-Herzegowina. Nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Deutschland nie und „nimmer die Aufnahme in die Vorläuferorganisation der EU verdient. Nun ist es an Deutschland„ „Geschenke“ zu machen. Hätte die EU nicht früher schon osteuropäische Staaten aufgenommen, wären sie nun dem direkten Druck und Einfluss Russlands ausgesetzt. Auch die Einigung Griechenlands und Nord-Mazedoniens im Namensstreit hat gezeigt, dass der Weg nach vorn der richtige ist.

Seit der „Flüchtlingskrise“ haben wir atmosphärische Belastungen und Zentrifugalkräfte in der EU. Die Folgen der nationalen Alleingänge Deutschlands, der handfeste Krach zwischen Rom und Paris, die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich ist so schlecht wie lange nicht – und der Brexit wird nicht das Ende der Union sein.. Der Zug fährt weiter. Was wir brauchen, ist eine abgestimmte Außen und Verteidigungspolitik der EU, mehr Sicherheit und Bemühungen für eine europäische Armee, mehr Geschlossenheit und eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik, die dem größten Binnenmarkt der Welt entspricht. Am besten mit einem europäischen Finanzminister. Was wir nicht brauchen, ist Bevormundung in den inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten. Schon gar nicht durch Deutschland. Wenn Deutschland Militäreinsätze mit Blick auf seine Geschichte ablehnt, wird das den Deutschen als Bequemlichkeit ausgelegt.

K: Wie verstehen sich die Menschen in Europa?

Auf jeden Fall besser als die Politik, Aber das ist ein weites Feld. Sie könnten auch fragen, wie verstehen sich die Menschen in Deutschland.. Es gibt einen Tweet, der gut illustriert, wie sich die Menschen in Europa verstehen und wie manche Deutsche sich hinter Europa elitär verstecken:

„Woher kommen Sie?“

„Ich bin Italiener.“

„ich bin Franzose“

„Ich Pole.“

„ich Ungar“

„Ich komme aus Finnland,“

„„Ich aus Irland.“

„Ich bin Europäer.“

Alle: Ah, ein Deutscher.“

Dass Europa nahezu geschlossen gegen die „große Europäerin“ Merkel steht, kümmert sie nicht. Die deutsche Flüchtlingspolitik seit 2015 ist die wesentliche Ursache für gravierende Fehlentwicklungen in Europa. Dazu gehören auch der Brexit und der neue Antisemitismus, der von einem Teil der Migranten ausgeht und mit Rechts- und Linksextremisten verbündet ist. Judenhass darf in Europa keinen Platz haben. Es ist Zeit, dass ein Pakt gegen Antisemitismus in Europa auf den Weg gebracht wird.

Der EU stehen bewegte Zeiten bevor. Bei der Europawahl drohen den etablierten Fraktionen ernst zu nehmende Verluste. Rechtspopulistischen Parteien werden große Gewinne vorausgesagt. Aber auch der Machtkampf zwischen den EU-Institutionen selbst könnte sich verschärfen.

Gegner der EU gibt es innen und außen, in Deutschland, in Europa und in der Welt. Sie werden es schwerer machen, das Richtige, das Notwendige. das Progressive durchzusetzen. Dabei bedeutet das altgriechische Wort Europa „weithin blickend“!

K: Was können die EU-Mitgliedstaaten und was können die Menschen in Europa tun?

R: Die nationale Politik hat eine Verantwortung für den Erfolg Europas. Gerade Europa sollte immer eine Win-Win-Situation sein. Europa muss für sich selbst sprechen und handeln. Diesmal genügt es nicht, auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Diesmal müssen wir alle Verantwortung übernehmen. Diesmal bittet das Europäische Parlament nicht nur, selbst wählen zu gehen, sondern auch andere zur Wahl zu animieren. Denn wenn alle wählen, gewinnen auch alle.

Waldemar Ritter2
Waldemar Ritter @ Hartmut Bühling