Die Lage ist ernst in Deutschland und in Europa

Dr. Waldemar Ritter, © Boskap

aR: Ich brauche nicht zu wiederholen, was ich nach ihrem verfassungswidrigen Alleingang seit Anfang September gesagt und  geschrieben habe. Inzwischen sind es nicht nur herausragende Politiker wie Altkanzler Gerhard Schröder, der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer und der niedersächsische Regierungschef Stephan Weil oder die immer stärker werdende Opposition in den Regierungsparteien. Jetzt haben sich die bedeutenden Verfassungsrechtler zu Wort gemeldet, wie der frühere Präsident  des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio, der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen, Richard Bertrams, und der Staatsrechtler Ulrich Battis. Sie haben unmissverständlich die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin gerügt.

K: Was sind die Hauptvorwürfe der Verfassungsrechtler?

R: Eklatantes Politikversagen bemängelt Papier, Kompetenzüberschreitung und möglicherweise Verfassungsbruch wirft Bertrams Merkel vor. Die Einreisepraxis bei Flüchtlingen kritisiert Di Fabio.

K: Und genauer?

R. Das Vorgehen der Kanzlerin  wirft die Frage auf, ob sie zu ihrem Alleingang überhaupt legitimiert war. In unserer repräsentativen Demokratie liegen alle wesentlichen Entscheidungen in den Händen der vom Volk gewählten Abgeordneten, also im Bundestag und in der Länderkammer, dem Bundesrat. Der Alleingang Merkels ist ein vom Grundgesetz nicht erlaubter „Akt der Selbstermächtigung“.

Noch nie war in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief wie heute. Das ist auf Dauer inakzeptabel. Papier spricht von rechtsfreien Räumen bei der Sicherung der Außengrenzen und nennt die unbegrenzte Einreisemöglichkeit einen Fehler. Es gibt kein voraussetzungsloses Recht auf Einreise für Nicht-EU-Ausländer. Notfalls muss an den Grenzen die Einreiseberechtigung von Ausländern kontrolliert und müssen illegale Einreisen unterbunden werden. Ohne Grenzkontrollen wird nicht nur der Sozialstaat aufgehoben, sondern auch der Rechtsstaat. Die Entscheidung darüber, ob im großen Stil Einwanderung nach Deutschland stattfindet, müssen der Bundestag und der Bundesrat treffen. Das kann weder die Bundeskanzlerin noch die Bundesregierung alleine.

K: Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer hat der Kanzlerin ein Ultimatum gegen deren Flüchtlingspolitik gestellt, das auf 14 Tage befristet ist.

R: Politik ist die einzige Kunst, über die abgestimmt werden kann und im Verfassungsstreitfall ein Urteil gefällt werden muss. In der Öffentlichkeit wurde gar nicht bemerkt, warum die kurze Frist notwendig ist. Der Fraktionsvorsitzende der Schwesterpartei CDU, der wahrscheinlich eine Ahnung davon hat, welchen Ausgang eine Klage der bayerischen Staatsregierung beim Bundesverfassungsgericht gegen die Bundeskanzlerin haben kann, hat um Zeit für Merkel gebeten. ohne das eigentliche Dilemma offen zu legen. Auch für Seehofer sollen die Argumente einstweilen die Klage ersetzen. Aber die Zeit ist begrenzt.

K: Warum eigentlich?

R: Für Bund-Länder-Streitverfahren bestimmt das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht: „Der Antrag muss binnen sechs Monaten, nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist, gestellt werden.“ Die Maßnahme, an der Seehofer zurecht Anstoß nimmt, ist die von der Bundeskanzlerin Anfang September verfügte Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge, die nach dem Buchstaben des deutschen Asylgesetzes und der europäischen Asylordnungen in den ersten von ihnen betretenen Mitgliedsstaat der EU zurück geschickt werden müssen. Wenn die Politik das nicht schaffen kann, wäre das Bundesverfassungsgericht der Meister, der dem Alleingang des Zauberlehrlings Merkel Einhalt gebieten kann. Frau Merkel hat also wegen der Klage, den bevorstehenden Landtagswahlen und der Ratssitzung der europäischen Regierungschefs für die Problemlösung maximal nur noch Zeit bis Ende März. Notfalls muss Deutschland seine Grenzen komplett schließen. Es geht darum, an den Grenzen wieder geordnete Verhältnisse herzustellen. Wenn die Bundeskanzlerin das nicht tut, wird nach dem Stand der Dinge die bayerische Staatsregierung vor dem Bundesverfassungsgericht klagen.

K:Sind nach Ihrer Meinung die Demokratie und der Rechtsstaat bedroht?

R: Die Schere zwischen politischen Parolen und der Realität des Rechtsstaates öffnet sich seit Jahren. Noch nie aber klaffte sie so weit auseinander wie in der Flüchtlingskrise. Denn während die politischen Entscheidungsträger Staatsorgane wie Polizei und Justiz bislang nur erodieren ließen – schlimm genug -,  haben Merkel und die Bundesregierung den Rechtsstaat durch die bedingungslose Öffnung der Grenzen außer Kraft gesetzt. Der Rechtssaat ist als Ganzes in Gefahr.

K: Muss Merkel umsteuern?

R: Die Bundeskanzlerin muss nicht nur umsteuern, sie muss umkehren, sie muss sich selbst überwinden, sonst wird sie überwunden werden.  Das ist auch eine der Voraussetzungen dafür, dass es Europa gelingt, die europäischen Außengrenzen zu sichern. Sonst hat sie die Zäune und Mauern mit zu verantworten, die in Europa kaum jemand will. Wenn Frau Merkel weiter eine Obergrenze ablehnt – auf das Wort kommt es dabei nicht an – und rasch keinen Plan B entwickelt, werden die meisten europäischen Staaten nicht bereit sein, der Bundeskanzlerin einen Blankoscheck zu unterschreiben, von dem sie nicht wissen können, wie hoch die Zahl der von ihnen aufzunehmenden Migranten wirklich ist und um welche Migranten es sich handelt. Wenn sie auch gegenüber Europa ihre Politik nicht ändert, werden wir um Grenzschließungen nicht herum kommen. Es geht darum, dass wir keine Flüchtlinge unkontrolliert in unser Land lassen, und falls jemand aus einem sicheren Nachbarland kommt, ist er unmittelbar abzuweisen. Das ist keine Erfindung der CSU, das ist das geltende Recht in Deutschland, an das sich seit Merkels Alleingang die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung nicht halten. Heute hat sich Österreich mit dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Werner Faymann für eine Obergrenze entschieden, in deren Folge auch der Druck für eine europäische Lösung verstärkt wird, endlich für eine sichere europäische Außengrenze zu sorgen. Frau Merkel wird jetzt erklären müssen, warum Österreich eine solche Grenze einführen kann, Deutschland aber nicht. Das führt doch all ihre Erklärungen ad absurdum.

K: Kommen wir noch einmal zurück zur Frage: Was hat die Kanzlerin falsch gemacht, und muss nicht der humanitäre Gedanke an erster Stelle stehen?

R: Natürlich ist der humanitäre  Impuls verpflichtend für all unser politisches Handeln. Vor allem, wenn wir die schrecklichen Bilder sehen und die noch schrecklicheren Bilder aus Syrien sehen. Daher verstehe ich, dass Frau Merkel im September den auf dem Balkan festsitzenden Flüchtlingen helfen wollte – wenn nicht gar musste.  Doch was sie tat, klang wie eine dauerhafte Einladung. Sie hätte von Anfang an dies zu einem eng befristeten Ausnahmezustand erklären müssen. Dann hätte sie u.U. auch in einem quasi übergesetzlichen Notstand erst mal alleine handeln können. Aber so etwas darf eben nur kurze Zeit dauern.

Doch das, was jetzt geschieht, und der anhaltende Zustrom zwingen uns dazu.

Was das Grundrecht auf Asyl betrifft, so muss gelten, dass kein Grundrecht absolut vor allen anderen steht. Mein Recht auf freie Meinungsäußerung endet dort, wo ich die Würde eines anderen verletze. Mein Recht auf  Freiheit endet dort, wo ich die Freiheit anderer einschränke. Das stellt uns natürlich jedes Mal vor ein schwieriges Dilemma, dem wir jedoch nicht ausweichen dürfen.

Der Bundespräsident hat dazu gerade gesagt:
“Eine Begrenzungsstrategie kann moralisch und politisch sogar geboten sein, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten. Sie kann auch geboten sein, um die Unterstützung für eine menschenfreundliche Aufnahme der Flüchtlinge zu sichern.”
Doch Frau Merkels Realitätsverweigerung ruiniert unsere Demokratie. Die Schriftstellerin Monika Maron schreibt überzeugend, Merkels kopflose Politik mache die Rechten und die Rechtsaußen stark. Ihre Flüchtlingspolitik spielt ihnen in die Hände. Seit ihrem Alleingang ist die AfD von 3 Prozent auf 14 Prozent gestiegen. In Polen haben die Nationalkonservativen die Wahlen gewonnen, in Frankreich ist der Front National im ersten Wahlgang Zweiter geworden, vor den regierenden Sozialisten. Mit Hinweis auf die von Merkel herbeigeführten Zustände in Deutschland In Europa sind  wir -– nach errungenem Vertrauen durch drei Generationen – seit vier Monaten isoliert. Der Eindruck, wir spielten gegenüber Europa unsere angebliche moralische Überlegenheit aus, macht das nur noch schlimmer.

Frau Merkel hat unsere Gesellschaft gespalten. Selbst ihre eigene Partei ist gespalten und soll bis zu den Landtagswahlen im März laut Julia Klöckner „die Klappe halten“, statt die Augen offen zu halten. Und beim Koalitionspartner SPD sagt der Vorsitzende Gabriel, noch eine Million können wir nicht verkraften. Und andere wichtigen Genossen sagen, wir haben die Nase voll von Frau Merkel. Mit Frau Merkel haben wir uns verschluckt, noch vielmehr als Herr Seehofer es meinen dürfte. Durch sie geht auf Jahre hinaus gar nichts mehr, wir werden lange an den Folgen laborieren müssen. Nach der Schreckensnacht von Köln ist der moralische Imperialismus auf seine Urheber zurück gefallen. Der so hochmoralische wie unehrliche Umgang mit der Flüchtlingsfrage fliegt Frau Merkel jetzt um die Ohren. Wer in der Not die 110 wählt, aber niemanden erreicht, der zweifelt an allem. Wer die Silvesterbilder aus Köln sieht, auch.

Es geht an die Wurzel des Staates, an das bisher selbstverständliche Vertrauen der Bürger, dass er funktioniert, dass er nichts verschweigt, verdreht oder vertuscht, dass er wenn erforderlich sein Gewaltmonopol einsetzt, dass der Staat seine Bürger schützt, schützen kann und schützen will und schützen muss. Die Flüchtlingskrise ist zur größten Vertrauenskrise der Bürger zum Staat seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland geworden. Die Befürchtung oppositioneller Abgeordneter aus Regierungsparteien ist, dass ohne eine schnelle Begrenzung in 2016 noch weit mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden als im Jahr 2015. Und die Ängste vor der Zukunft, mittlerweile aber auch die Verzweiflung, der Zorn und die Wut der Bürger sind mit Händen greifbar.

K:Wir möchten in diesem Zusammenhang noch eine ganz andere Frage an Sie stellen: In dieser Woche behauptet der bekannte Journalist Jakob Augstein, unsere Hilfe für die Flüchtlinge sei eine konkrete Verpflichtung, die sich aus der deutschen Vergangenheit ergebe. Nicht bloß eine Verpflichtung, sondern die: „Wenn wir nicht solche Lehren aus Auschwitz ziehen, welche dann?“

R: Dazu hat schon mein Freund Ernst Eichengrün geschrieben, mit dem ich 1967 die erste politische Streitschrift gegen die NPD verfasst habe:

„Welche dann?“ So fragt auch er. „Das müsste selbst Herrn Augstein klar sein: Nämlich die direkt begründbare Solidarität des Staats mit den in Auschwitz  ermordeten Juden! Doch diese Idee dürfte Herrn Augstein fernliegen, bricht bei ihm doch immer wieder seine Feindseligkeit gegenüber Israel durch.

K:Welche Verpflichtung vielleicht noch?

Noch eine müsste uns nahe liegen, nämlich die Verpflichtung gegenüber den von Deutschland überfallenen und verwüsteten Ländern. Vor allem gegenüber unseren östlichen Nachbarn. Gerade die aber wollte Herr Augstein erst kürzlich am liebsten aus der EU herausdrängen.
Und unsere Nachbarn werden wohl kaum bereit sein, die jetzt von uns demonstrativ usurpierte moralische Überlegenheit in der Flüchtlingsfrage  als Kompensation für Auschwitz und den zweiten Weltkrieg zu akzeptieren“.

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