Der Kulturarchitekt der deutschen Einheit Waldemar Ritter feiert am 21. März seinen 90. Geburtstag

Dr. Ritter Politologe © KABINETT

Kabinett: Sie sind in Osterode in Ostpreußen geboren.

Dr. Ritter: Ja, „Atlantis des Nordens“. Im Land von Herder, Kant und Kopernikus. Ja, da wurde ich geboren. Dort war meine Kindheit.

K: Sie werden zum Frühlingsanfang 90 Jahre alt.

R: Ja, ich habe das zwar immer erahnt, aber lange Zeit erfolgreich das verdrängte biblische Alter erreicht.

K: Sie sind aber noch immer aktiv. Was kommt noch?

R: Es wird ja immer gesagt, mit dem Alter komme die Weisheit über einen. Ist sie trotz Kulturaneignung bisher aber nicht; daher muss ich ihr noch eine Chance geben. Ich habe tatsächlich noch viel zu tun, und auf den Friedhof werde ich ohnehin nur umziehen, wenn dort W-Lan liegt.

K: Sie haben viele Freundinnen und Freunde. Ein ganz Großer sagte über Sie „Er ist einer wie keiner“.

R: Na ja. Gott weiß es und ich weiß es, einer wie ich ist genug. Ebenso bin ich ein Zoon politikon, also ein Mensch als soziales, politisches Wesen. Ich passe in keine Schablone.

K: Man passt doch irgendwohin?

R: Man habe ich nicht im Telefonbuch gefunden. Aber ich bin ein Mann. Ich bin ein Kriegskind. Das sind die weißen Jahrgänge, die für die Wehrmacht zu jung und für die Bundeswehr zu alt waren. Das sind Kinder, die in Deutschland und Europa Grausamkeiten, Entsetzlichkeiten, Schrecken und Not erlebt haben, die heute wohl nicht mehr wirklich nachempfindbar sind. Und diese Generation hat das Wunder von Bern geschafft, was weder zu Kaisers Zeiten noch in der Weimarer Republik und schon gar nicht in Dritten Reich geschafft wurde: Wir wurden 1954 das erste Mal Fußballweltmeister. Für jeden Spieler gab es damals 500 D-Mark. Damals begann auch das deutsche Wirtschaftswunder. Ja, alles wie Phönix aus der Asche.

K: Sie sind ein Kind aus dem Atlantis des Nordens. Aufgewachsen an der Grenze zum Unterallgäu und in Augsburg, Studium in München und Promotion in Berlin, und seit 62 Jahren in der Bundesstadt Bonn. Genau 1963 haben sie bei Max am Bonner Kaiserplatz nicht nur halven Hahn gegessen, sondern mit ihren Freunden schon gesungen: You will never walk allone! Sie haben auch mit Wehner gesungen.

R: So war das nicht: Herbert Wehner hat Mundharmonika gespielt. Ich habe gesungen.

Wir wissen, Sie haben als Studentensprecher schon 1956 mit Willy Brandt auf der Straße zum 17.Juni 1953 gesungen, damals als sowjetische Panzer, den ungarischen Volksaufstand niederschlugen.

K: Werden Sie gerne älter?

R: Natürlich! Ich möchte gern noch einige Jahre älter werden. Jünger war ich schon. Wenn man nicht krank ist, dann ist älter werden schön und ein Gewinn. Man gewinnt immer viele Erfahrungen dazu.

K: Wie halten sie sich fit?

R: Na ja – das ist ein weites Feld. Drei bis viermal in der Woche bei meinem SSF Bonn Schwimmen. Mindestens einmal am Tag durch die Bonner „Düne“ direkt vor meiner Haustür oder am Rhein oder an der Sieg spazieren gehen. Kleine Wanderungen durchs Siebengebirge oder im Ahrtal und nicht nur im Sommer in den bayrischen Alpen.

K: Sie haben früher hohe Berge bestiegen.

R: Ja zum Beispiel, mit 17 die Zugspitze, mit 52 zum zweiten Mal auf den Montblanc. Und voriges Jahr über die Wiesen am Fuß der Zugspitze, die jetzt zum Weltkulturerbe erklärt werden sollen. Oder von dort nur noch mit der Zugspitzbahn oder vom Eibsee bis oben zur Spitze. Ich stelle mich gern neben junge Leute, dann sehe ich nicht so alt aus. Das ist für meine heutigen Verhältnisse mindestens so anders schööön, als damals auf den drei Zinnen.

K: Sie meinen die Qualitäten?

R: Ja da gibt es Unterschiede. Bei den Quantitäten ist es anders: allenfalls die Hälfte. Auch mit 90 kann man noch 60 sein – aber nur eine halbe Stunde am Tag.

K: Sie haben vor 50 Jahren gesagt: Die Liebe ist das Grundgesetz unserer humanen Existenz.

R: Dabei bleibe ich. Das wirkungsmächtigste aller Gefühle, auch im hohen Alter.

K: Wie alt möchten Sie werden?

R: Ich würde gern 100 werden in einem Zustand, dass ich mir dann wünsche, 101 zu werden.

K: Wie alt fühlen sie sich wirklich?

R: Da muss ich differenzieren. Ich bin ja absichtlich 90 geworden. Ich bin jeden Morgen aufgestanden. Ich finde das Leben eine einmalige Sache. Ich war Millionen Jahre nicht dabei, jetzt lebe ich und habe hoffentlich noch ein paar gute Jahre.

K: Sind sie manchmal einsam?

R: Nein! Das war ich nie. Das bin ich nicht. Soziale Kontakte gehören zu einem guten Leben. Ich habe eine große anspruchsvolle Familie, ich bin ein begeisterter Großvater mit fünf Enkeln. Ich habe viele sehr viele wunderbare Freundinnen und Freunde, darunter noch 10 mit denen ich seit über siebzig Jahren tief Verbunden bin. Und die persönlich sehr wichtigen politischen und kulturellen Anlässe und Freundschaften national und international. Sie sind das Gegenteil, dessen, was man älteren Menschen nachsagt?

R: Ich habe neulich gelesen: Einsamkeit wird zum Massenphänomen, zu einer neuen Volkskrankheit, die eben nicht nur ältere Menschen betrifft, sondern auch junge Leute. Diesen Menschen fehlt Gesellschaft, aber der Gesellschaft fehlen auch diese Menschen. Wir alle können helfen, auch der Staat, in dem er zum Beispiel kulturelle Anlässe schafft, zu denen man auch ohne Geld kommen kann.

K: Sie haben vor kurzem über die Lage der Nation und Europa geschrieben. Haben Sie Ihren Humor behalten.

R: Die Weltlage ist tierisch Ernst. Und dabei, nicht nur wie im Aachener Karneval die Zuversicht und den Humor nicht zu verlieren ist alles andere als einfach.

K: Sie haben schon sehr jung für die deutsche und die europäische Einheit und Freiheit gekämpft und gearbeitet. Auf Ihre Initiative legten sie 1964 in der Stadt Karls des Großen zusammen mit Willy Brandt den „Europa Grundstein des Friedens“ und 1970 den Brief zur deutschen Einheit, der den internationalen Ostverträgen hinzugefügt wurde.

R: Ja, Brandt war damals Bundeskanzler und ich in seinem engen politischen Gesprächskreis und im gesamtdeutschen Ministerium und Scheel Außenminister. Wir wollten, dass unsere Deutschland- und Ostpolitik international unmissverständlich verstanden wird: „Das dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.

K: Sie sind ein scharfsinniger Analytiker und klug- auch mit 89.  Man hat sie mit Henry Kissinger verglichen, der zehn Jahre älter ist als Sie.

R: Kissinger zeigt, wozu Menschen in hohem Alter noch immer in der Lage sind. Es gibt international gar nicht so wenige davon. Jeder ob jung oder alt wird gerade in unserer heutigen Weltsituation der Umwälzungen der Herausforderungen das Geben, was er kann. Wir können es uns nicht leisten auf die Erfahrung der Alten zu verzichten. Und dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“

K: Sie haben viele Bücher und Essays geschrieben. Was lesen sie gerade?

R: Ein sehr weites Feld. Der Almanach, den ich gerade auf dem Tisch habe befasst sich mit KONSENZ und DISSENZ. Es geht um zunehmende Polarisierung. Und nicht zuletzt auch um die Grauzonen, in denen sich Übergreifendes oder Gar-nicht -zu-Greifendes verorten lässt und zur Abwechslung das spektakuläre Buch von Guido Tonelli: Eine Physikalische Reise zu den Ursprüngen der Zeit. Die personifizierte Zeit von Newton bis Hamlet, von Einstein bis Dali. Ja, und das unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit. Das merke ich in meinem Alter ganz persönlich.

K: Können Sie in diesen Zeiten noch lachen?

R: Ja in der letzten Zeit mehr als früher, am meisten über mich selbst. Ich lebe gern, ich lache gern, auch über mich selber. Mit meiner gegenwärtigen Rippenprellung schmerzt das sehr. Also noch einmal. Ich lebe gern und das ist es doch, worauf es ankommt, die Liebe zur Liebe und die Liebe zum Leben.

K: Der Frühling ist nicht mehr weit entfernt.

R: Es ist früher hell, die Vögel zwitschern anders. Dennoch sehe ich die Schrecken des russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Hier muss ich weinen, hier muss ich warnen, hier muss ich fordern. Diese Invasion ist ein Angriff auf unser kollektives Gewissen. Der Friedensplan liegt in New York auf dem Tisch, es ist die Charter der Vereinten Nationen. Die konkreten Schritte hin zum Frieden in der Ukraine sind in der Forderung der UN-Generalversammlung enthalten, über die heute abgestimmt wurde. Die UN-Vollversammlung verurteilt erneut die Invasion und fordert Russlands Rückzug aus der Ukraine. Das Ganze ist ein großes Votum für den Frieden.