Wir stellen „Ohrenkuss“ vor

Ohrenkuss– ein Titel, eine Zeitschrift, ein Grundrecht

Sie hat in den 80er Jahren in Bonn Biologie studiert und am Institut für Humangenetik den genetischen Status von Zellen erforscht: Dr. Katja de Bragança. Als Tochter eines Inders und einer Deutschen geboren in Norddeutschland, wuchs sie im indischen Bundesstaat Goa auf und lebt seit den 70er Jahren in Deutschland. Ihrer Tätigkeit am Institut für Humangenetik schlossen sich vier Jahre am Institut für Medizinische Parasitologie und zwei Jahre am Medizinhistorischen Institut der Uni Bonn an.

Durch ihre Doktorarbeit, die Katja de Bragança über die sogenannte „Trisomie 21“ schrieb, hat sie viele Menschen mit dieser Behinderung kennen und schätzen gelernt – Menschen, die mit dem Down-Syndrom und dem zusätzlichen Chromosom Nr. 21 geboren wurden. „Man erliegt leicht dem Mechanismus, zu denken, kenne ich einen, kenne ich alle“, sagt die Wissenschaftlerin. „Wenn man aber mehr als hundert kennen gelernt hat, merkt man, das ist ein Irrtum“.

Irgend wann sah Katja de Bragança nicht mehr die Behinderung, das spezifische Merkmal, sondern die Persönlichkeiten dahinter, die genauso vielfältig sind wie die jener Mitmenschen, die mit 46 Chromosomen geboren werden. Zwei Jahre leitete sie ein von der Volkswagen-Stiftung gesponsertes Forschungsprojekt zur Lebenswirklichkeit von Menschen mit Down-Syndrom. Es ging um die Gegenüberstellung, wie Menschen mit Down-Syndrom die Welt erleben und wie die Welt diese Menschen sieht. Sie wollte mit dem weit verbreiteten Vorurteil aufräumen, dass Menschen mit dieser Behinderung nicht lesen und nicht schreiben lernen können, und das Umfeld zu einer neuen Denkweise anregen. „Wenn Eltern davon ausgehen, ihre Kinder können das sowieso nicht lernen, bringen sie es ihnen auch nicht bei“.

Katja de Bragança bewies, dass Menschen mit Down-Syndrom durchaus lernfähig sind. Das Problem liegt eher bei den Zeitgenossen mit „normaler“ Chromosomenzahl, die es zu überzeugen gilt, und zwar gerade nicht auf die diskriminierende Mitleidstour.

So entstand 1998 das Magazin „Ohrenkuss“.

Zunächst waren es nur vier Ausgaben. Dann sollte das Projekt beendet werden. Jetzt, gute zwölf Jahre später, freut sich Herausgeberin Katja de Bragança, damals dem Argument, eine Zeitschrift mit nur vier Ausgaben sei nicht halbes und nichts ganzes, gefolgt zu sein. Sie machte weiter. Nach Auslaufen der Finanzierung im Jahr 2000 gründete sie mit ihrer Partnerin Dr. Bärbel Peschka das Unternehmen „Downtown Werkstatt für Kultur und Wissenschaft“, die fortan das Magazin herausgab.
Außer ihr selbst haben die rund 15 Redakteure und mehr als 30 Autoren, die derzeit bundesweit für das Magazin arbeiten, das Down-Syndrom.

Die zweimal im Jahr erscheinende Zeitschrift verdankt ihren ungewöhnlichen Namen einem Kuss, den Redakteur Michael Häger während einer Redaktionskonferenz, zu der man sich alle zwei Wochen in Bonn-Beuel trifft, seiner Chefin aufs Ohr drückte. Inzwischen ist „Ohrenkuss“ nicht nur ein griffiger, fantasievoller Titel, sondern auch Synonym für  Wichtiges, das man sich merkt und das nicht zum einen Ohr rein- und zum anderen wieder rausgeht, und vor allem für authentisch in Worte und Texte verpackte Empfindungen. Wie jener Satz von Tobias Wolf, der vielzitiert wird und der das Zeug zum Slogan hat:
 „Ein Reh ist eine Seele mit vier Beinen“.
Ein echter „Ohrenkuss“ – besser kann man es nicht sagen.

Jeder der Mitarbeiter  schreibt, wie er es am besten kann, mit der Hand, am Computer, oder diktiert seinen Text. Jede Ausgabe hat ein gemeinsam erarbeitetes, bestimmtes Schwerpunktthema wie Mode, Liebe, Filme wie den bewegenden „ME TOO“ 2009 über einen jungen Spanier mit Down-Syndrom oder einen Besuch im Arp-Museum in Rolandseck, aus dem der „Paradies“-Kalender für 2011 wurde.

2008 entstand zum zehnjährigen Jubiläum das „Ohrenkuss“- Wörterbuch, das für den Designpreis 2011 nominiert wurde.

Die Zeitschrift selbst wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Förderpreis „Demokratie leben“ 1999 und 2004 mit dem Ideenpreis der Körber-Stiftung.

 Katja de Bragança legt großen Wert auf professionelle Fotos und zeitgemäßes Layout, um sich von den „grottigen“ Publikationen vieler Behindertenverbände abzugrenzen. Opferpolitik ist ihr zuwider. Sie fordert Respekt, kein Mitleid. Man soll die Zeitschrift kaufen, anstatt zu spenden. Sie will kein schlechtes Gewissen behinderten Menschen gegenüber wachrufen, sondern überzeugen.  
Durch die stetig wachsende Zahl an Abonnenten – aktuell sind es 3000 – kann  „Ohrenkuss“, das bewusst auf Werbung verzichtet („ruiniert die Optik“, sagt die Herausgeberin), sich selbst finanzieren. Vor gut einem Jahr wurde der Verein „Down Syndrom Kultur“ zur Förderung und Unterstützung kultureller Arbeit von Menschen mit Down-Syndrom mit Sitz in Bonn gegründet, um die Finanzierung der vielfältigen Assistenz, die „Ohrenkuss“-Schreiber für ihre Arbeit benötigen, zu gewährleisten. Schüler und Studenten bieten ihre Hilfe gern an.

Katja de Bragança sieht auch das locker und völlig unverkrampft: „Ich brauche eine Lesebrille als Hilfe. Jeder braucht doch irgend eine Form der Hilfe“.

Aus dem wissenschaftlichen Forschungsprojekt ist ein Selbstläufer geworden. Die Initiatorin schreibt Artikel, hält Vorträge und Seminare zum Broterwerb, immer aus der Sicht einer Frau, deren Engagement längst über das der distanzierten Wissenschaftlerin hinausgeht. Davon zeugen auch Schreibwerkstätten, bei denen sie Menschen mit und ohne Down-Syndrom die Gelegenheit zur Kreativität und zum Austausch gibt.

Katja de Bragança, Mutter von vier erwachsenen Kindern, hat wesentlich zur Verhaltensänderung der Gesellschaft gegenüber behinderten Menschen beigetragen. Dafür wurde sie, noch von Horst Köhler nominiert, im August von Bonns OB Jürgen Nimptsch mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

Zunächst hat sie gezögert, die Auszeichnung anzunehmen. Sie wehrt sich dagegen, die Integration von Menschen mit Down-Syndrom in die Gesellschaft als Vision zu betrachten: „Das ist keine Vision, das ist ein Grundrecht“. Als ihre eigentliche Leistung sieht sie, mit dem Magazin „Ohrenkuss“ einen Weg gefunden zu haben, Texte von Menschen mit dem zusätzlichen Chromosom anderen zugänglich zu machen und so deren Sicht auf die Welt, in der sie leben, näher zu bringen. So gelingt es, „über die gemeinsame kreative Arbeit Vorurteile abzubauen und voneinander zu profitieren“, wie es Bonns OB in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung formulierte.

Treffend beschreibt Katja de Bragança ihre „Erfindung“, die Hochglanz-Zeitschrift „Ohrenkuss“, als eine in einer Kamera installierten Linse, durch die der Betrachter neue Blickwinkel gewinnt. Nicht selten folgt daraus ein Wechsel der Perspektive.

Im Grunde sollte die von ihr propagierte Welt, in der Menschen unterschiedlich sein dürfen, selbstverständlich sein. Die Wirklichkeit allerdings sieht auch im Jahr 2010 ganz anders aus. Aus gutem Grund beschäftigt sich die „Ohrenkuss“-Ausgabe dieses Herbstes mit dem Titelthema „Du bist ein Mensch“.

Insofern ist es vielleicht doch eine Vision, die Katja de Bragança antreibt und die sie täglich mit Leben erfüllt.

R.

Schreibe einen Kommentar